Waldkonzert am Morgen.
111
weder die Vögel noch blühen die Blumen als unwahr umstoßen können,
ebenso wenig vermag das Männchen dieser einzelnen Art das großartige
Gesetz der farbigen Verhältnisse zwischen Gegend und Vogel zu erschüttern.
Doch lassen sich einige Gesichtspunkte anführen, welche den Widerspruch
seiner Farbe im Winter mit der Umgebung nicht unbedeutend mildern. Er
kommt nämlich nie in Scharen vor; nie lebt er offen auf offenen Flächen,
sondern im Gebüsch, wenn auch nicht gerade sehr versteckt; ist nie zahlreich,
sondern stets spärlich, so daß sein schönes Rot sich nicht sehr oft, stets sehr
dünn verteilt präsentiert; die Weibchen sind durchaus winterlich gefärbt,
und auch das Männchen nimmt, wie derHeher, sofort die Winterfarbe an,
wenn es fliegend vor uns flieht. Auch hier sind Schwingen und Schwanz
schwarz, der Unterrücken weiß. Fliegend erscheint er, wenn wir ihn nicht
gerade von der Seite und von unten sehen, durchaus den Wintertönen
entsprechend. Wäre er auf dem Rücken hochrot koloriert, und suchte er mit
Lerchen, Finken, Ammern auf dem Boden der Felder seine Nahrung; so
ließe er sich allerdings als Einwendung gegen meine Behauptung auf¬
stellen. Man erkennt bei einem solchen Eingehen ins einzelne und einzelste
erst so recht, wie wunderbar herrlich und genau die Besonderheiten der
Einzelwesen zur harmonischen Darstellung des Ganzen berechnet und an¬
geordnet sind. Das Tier aber kleidet und schmückt sich nicht selbst, es steht
mit seinem Äußern selbstverständlich willenlos unter dem Bildungs- und
Lebensgesetz der Natur.
Wenn nun alles so treffend paßt, daß der Vergleich mit einem Mosaik¬
bild wahrlich keine leere Floskel ist; wenn durchaus unabhängig von dem
„geistigen" Wesen der Tiere sich Sinn und Verstand in der ganzen An¬
ordnung zeigt: so liegt doch gewiß der Gedanke nicht fern, daß die teleo¬
logische, bezüglich ideale Auffassung für den denkenden Menschen eine
unabweisliche Berechtigung habe. Bernhard Altum.
43. Waldkonzert am Morgen.
Wenn noch die Sterne fröhlich am blauen Nachthimmel schimmern,
beginnt es im Walde sich zu regen. Die Amsel erwacht. Sie schüttelt
den Tau von ihrem schwarzglänzenden Gefieder, wetzt den Schnabel am
Zweige und hüpft höher hinauf am Ahornbaum. Sie wundert sich fast,
daß der Wald noch fortschläft. Zweimal, dreimal ruft sie über die Bäume
hin, hinüber an die andere Bergwand und hinunter ins Thal, über dessen
Bach ein paar dünne Nebelstreifen sich hingelegt haben. Dann flötet sie
mit Macht ihre metallreicheu Strophen, bald in munterem Humor, bald
in tiefen klagenden Lauten. Rasch erwacht nun das Leben im ganzen Revier.
Der Kuckuck läßt seinen melodischen Lockruf durch den Wald ertönen. Dünne
bläuliche Rauchsäulen erheben sich aus den Kaminen der Dörfer; auf den
Gehöften bellen hin und wieder die Hunde; eine Kuhglocke ertönt; alle
Vögel erheben sich aus ihren dunkeln Büschen von der Erde, aus den Felsen;