Full text: [2 (Mittlere Lehrstufe)] (2 (Mittlere Lehrstufe))

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I Erzählung. 
Der Herr trat mit der Dame zum Grab, nahm den Hut ab und 
las die Inschrift des schlichten Kreuzes. Sie enthielt einfach genug den 
Namen des Pfarrers und darunter die Worte: 
Gestorben in treuer Pflichterfüllung 
am Lagerfieber 
im Jahre 1809. 
Der Herr sah die Dame an, welche die Augen voll Wasser hatte. Sie 
sprachen kein Wort, aber ihre Blicke hatten sich verstanden. Der Herr 
kniete nieder auf das Grab, und neben ihm die Dame. Sie beteten lange 
mit gefalteten Händen, und ihre Thränen fielen reichlich auf das Grab. 
Hierauf standen sie auf, und der Kaiser sprach zur Kaiserin: „Der arme 
Priester, dem seine Mutter lehrte, Reichtum und Ansehen zu verschmähen, 
der das einträgliche Kanonikat bei St. Stephan verschmähte, verschmähte 
aus Liebe zum armen Heilande am Kreuze und zu seiner Gemeinde — o, 
ich verstand damals deinen Blick auf Mutter und Kreuz, edler Priester! — 
ist jetzt dort, wo unser Erlöser und seine Mutter. — „„Der Hirt kann 
seineSchäflein nicht verlassen,"" sprach er damals, „„ich danke, 
unter ihnen hab eichgelebt, unter ihnen will ich auchbe¬ 
graben sein."" Sein Wunsch ist erfüllt. Der Herr hat ihm ein 
besseres Kanonikat gegeben, als ich imstande war. Selig sind die Armen 
im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich. Schlaf wohl, du redlicher, 
edler Pfarrer von Ulrichskirchen! Du hast die Worte des Heilandes: „„Ich 
bin ein guter Hirt; ein guter Hirt giebt sein Leben für seine Schafe,"" nicht 
nur verstanden, sondern auch geübt. Selig ist der Tod des Gerechten, 
denn seine Werke folgen ihm nach." 
AntonLanger und Bruno Schön. 
4. An Gesuch bei Gellert. 
„Wissen Sie," rief der alte Husar mit der größten Lebhaftigkeit aus, 
„wem ich alles zu verdanken habe, daß ich ein Mensch, und daß ich ein 
guter Mensch bin?" „Nein," sagte der Obrist; „Sie machen mich be¬ 
gierig." — „Ihm," sprach jener mit Enthusiasmus weiter, „unserm 
Gellert, unserm frommen Weisen, von dem die jetzige überkluge Welt 
nur noch selten sprechen mag. — Unser Regiment war dreimal in Leipzig. 
Der große Friedrich hatte es auch nicht verschmäht, den damals be¬ 
rühmten Gottsched zu sprechen und sich von Gellert einige seiner 
Fabeln vorlesen zu lassen. Ich hatte mich wahrlich nicht viel um Bücher 
bekümmert, aber diese Fabeln wußte ich doch auswendig. Sie prägen sich 
auch ganz von selbst dem Gedächtnisse ein, so einfach und natürlich sind sie 
alle. Jedermann muß meinen, wenn er den Gedanken gefaßt hätte, würde 
er ihn auch in keinen andern Worten ausgesprochen haben. Mit seinen 
geistlichen Liedern ist es derselbe Fall. So ließ es mir keine Ruhe, ich
	        
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