Full text: Vierunddreißig Lebensbilder aus der deutschen Litteratur

20. Johann Wolfgang von Goethe. 
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Brüder von Ochsenstein, hinterlassene Söhne des verstorbenen Schultheißen, gar lieb 
und beschäftigten und neckten sich mit mir auf mancherlei Weise. 
Die Meinigen erzählten gern allerlei Eulenspiegeleien, zu denen mich jene sonst 
ernste und einsame Männer angereizt. Ich führe nur einen von diesen Streichen an. 
Es war eben Topfmarkt gewesen, und man hatte nicht allein die Küche für die nächste 
Zeit mit solchen Waren versorgt, sondern auch uns Kindern dergleichen Geschirr 
im kleinen zu spielender Beschäftigung eingekauft. An einem schönen Nachmittage, 
da alles ruhig im Hause war, trieb ich im Geräms mit meinen Schüsseln und 
Töpfen mein Wesen, und da weiter nichts dabei herauskommen wollte, warf ich ein 
Geschirr auf die Straße und freute mich, daß es so lustig zerbrach. Die von Ochsen¬ 
stein, welche sahen, wie ich mich daran ergötzte, daß ich so gar fröhlich in die 
Händchen patschte, riefen: „Noch mehr!" Ich säumte nicht, sogleich einen Topf und 
auf ihr immer fortwährendes Rufen: „Noch mehr!" nach und nach sämtliche 
Schüsselchen, Tiegelchen, Kännchen gegen das Pflaster zu schleudern. Meine Nach¬ 
barn fuhren fort, ihren Beifall zu bezeigen, und ich war höchlich froh, ihnen Ver¬ 
gnügen zu machen. Mein Vorrat aber war aufgezehrt, und sie riefen immer: „Noch 
mehr!" Ich eilte daher stracks in die Küche und holte die irdenen Teller, welche nun 
freilich im Zerbrechen noch ein lustigeres Schauspiel gaben; und so lief ich hin und 
wieder, brachte einen Teller nach dem andern, wie ich sie auf dem Topfbrett der 
Reihe nach erreichen konnte, und weil sich jene gar nicht zufrieden gaben, so stürzte 
ich alles, was ich von Geschirr erschleppen konnte in gleiches Verderben. Nur 
später erschien jemand, zu hindern und zu wehren. Das Unglück war geschehen, und 
man hatte für so viel zerbrochene Töpferware wenigstens eine lustige Geschichte, an 
der sich besonders die schalkischen Urheber bis an ihr Lebensende ergötzten. 
2. Klopftocks „Messias" im Goetheschen Hause. 
Aus der Ferne machte der Name Klopstock auch schon aus uns eine große 
Wirkung. Im Anfang wunderte man sich, wie ein so vortrefflicher Mann fo wunder¬ 
lich heißen könne; doch gewöhnte man sich bald daran und dachte nicht mehr an die 
Bedeutung dieser Silben. In meines Vaters Bibliothek hatte ich bisher nur die 
früheren, besonders die zu seiner Zeit nach und nach heraufgekommenen und ge¬ 
rühmten Dichter gefunden. Alle diese hatten gereimt, und mein Vater hielt den 
Reim für poetische Werke unerläßlich. Canitz, Hagedorn, Drollinger, Geliert, Creuz, 
Haller standen in schönen Franzbänden in einer Reihe. An diese schlossen sich Neu- 
kirchs Telemach, Koppens befreites Jerusalem und andere Übersetzungen. Ich hatte 
diese sämtlichen Bände von Kindheit auf fleißig durchgelesen und teilweise memoriert, 
weshalb ich denn zur Unterhaltung der Gesellschaft öfters aufgerufen wurde. Eine 
verdrießliche Epoche im Gegenteil eröffnete sich für meinen Vater, als durch Klop- 
ftocks Messias Verse, die ihm keine Verse schienen, ein Gegenstand der öffentlichen 
Bewunderung wurden. Er selbst hatte sich wohl gehütet dieses Werk anzuschaffen; 
aber unser Hausfreund, Rat Schneider, schwärzte es ein und steckte es der Mutter 
und den Kindern zu. 
Auf diesen geschäftsthätigen Mann, welcher wenig las, hatte der Messias gleich 
bei seiner Erscheinung einen mächtigen Eindruck gemacht. Diese so natürlich ausge¬ 
drückten und doch so schön veredelten frommen Gefühle, diese gefällige Sprache, wenn 
man sie auch nur für harmonische Prosa gelten ließ, hatten den übrigens trocknen 
Geschäftsmann so gewonnen, daß er die ersten zehn Gesänge, denn von diesen ist 
eigentlich die Rede, als das herrlichste Erbauungsbuch betrachtete, und solches alle 
Jahre einmal in der Karwoche, in welcher er sich von allen Geschäften zu entbinden 
wußte, für sich im stillen durchlas und sich daran fürs ganze Jahr erquickte. Anfangs 
dachte er seine Empfindungen seinem alten Freunde mitzuteilen; allein er fand sich 
sehr bestürzt, als er eine unheilbare Abneigung vor einem Werke von so köstlichem 
Gehalt, wegen einer, wie es ihm schien, gleichgültigen äußeren Forin, gewahr 
werden _ mußte. Es fehlte, wie sich leicht denken läßt, nicht an Wiederholung 
des Gespräch's über diesen Gegenstand; aber beide Teile entfernten sich immer
	        
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