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Neue und neuste Zeit.
IX.
Volkstümliche und Dialektdichter.
22. Matthias Claudius.
(Vgl. die Einleitungen zu 16, 17, 18).
Klopstock hatte hauptsächlich in seinen Oden und Liedern den deutschen Dichtern gezeigt, daA
nur wahrhaft Empfundenes, wirklich Erlebtes der würdige Gegenstand der Dichtkunst sein könne;
er hatte mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß die Poesie auf nationaler Grundlage beruhen müsse.
Lessing hatte nicht nur in der „Dramaturgie" dieselbe Forderung hinsichtlich des Dramas gestellt,
sondern er hatte auch in der „Minna von Barnhelm" ein nationales Musterdrama geschaffen.
Einen weiteren Schritt that Herder, welcher in einer Reihe von Abhandlungen ausführte, daß
die Poesie, wenn sie Eigentum des Volkes werden sollte, nicht gelehrt, sondern nach Stoff und
Sprache volkstümlich sein müsse; er hatte dabei als ewig frisch und lebendig sprudelnde Quelle,
aus welcher die Dichter zu schöpfen hätten, das Volkslied bezeichnet.
Lehre und Vorbild dieser drei bahnbrechenden Geisteshelden blieben nicht wirkungslos; wie
sehr Goethe durch sie beeinflußt war, ist schon gezeigt, auch auf die Mitglieder des Hainbundes,
die sich an Klopstock insonderheit anlehnten, ist schon hingewiesen. Es traten aber auch Männer
auf, die aus dem Volke heraus und für das Volk, d. h. für die breiteren Schichten des Bürger¬
und Bauernstandes in einer einfachen, natürlichen und doch edlen Sprache, die Gebildeten und
Ungebildeten verständlich war, ihre Dichtungen schufen. Unter ihnen sind zwei noch heute die
Lieblinge des deutschen Volkes, zugleich sind sie die Führer und Meister geworden für viele neuere
Dichter, welche volkstümlich zu schreiben versucht haben. Der eine jener beiden Dichter, ein Süd¬
deutscher, ein echter Sohn Schwabens, ist Johann Peter Hebel, der andere, seiner Geburt und
seinem Wesen nach dem Norden unseres Vaterlandes angehörig, ist
Matthias Claudius,
geboren am 15. August 1740 in dem damals dänischen Orte Reinfeld bei Lübeck. Sein Vater war
daselbst Pfarrer, der seinen Sohn auf das sorgfältigste erzog und bis zu seinem vierzehnten Lebens¬
jahre selbst unterrichtete. Diesem vortrefflichen Manne verdankt Matthias sehr viel, und er hat
bis in sein eigenes Greisenalter dem Toten die rührendste Dankbarkeit und Verehrung bewahrt.
(Vgl. A, 14 die Worte „Sieh, wenn ich's beten will." — A, 9). An der Mutier, deren Recht¬
schaffenheit und Frömmigkeit er oft rühmt, hat er mit herzlicher Liebe gehangen. Die Lehren, die
sie ihren Kindern fürs Leben gab, hat er treulich befolgt und hat sie seinen eigenen Kindern ver¬
erbt (A, 17). Ihre beiden Wahlsprüche: „Das Seinige treu thun ist ein Stern, der auf der bloßen
Brust sitzt und nicht am Latz" und „Befiehl dem Herrn deine Wege" sind auch die Leitsterne seines
Lebens allezeit gewesen.
Anfänglich Theolog ging er wegen eines Brustleidens zur Rechtsgelehrsamkeit über; nach
kurzem Aufenthalt in Kopenhagen blieb er von 1768 bis 1770 in Hamburg, wo er zu Klopstock,
Lessing und Herder in nähere Beziehungen trat. Seit dem Jahre 1770 wohnte er in Wandsbeck
bei Hamburg und fand hier das Glück seines Lebens; denn 1771 vermählte er sich mit Rebekka
Behn, mit der er in ungetrübtem Frieden des Lebens Lust und Leid treu geteilt hat. Was ihm
Gott in seinem Familienleben sandte, das hat er ausklingen lassen in schlichten, herzbewegenden
Liedern. Er sieht voll Vaterfreude seine Kindlein im Hellen Schein der Sonne spielen und dankt
ihr und ihrem gütigen Schöpfer und Lenker für alles Liebe und Gute (A, 2), er sieht mit den
Seinen der aufgehenden Sonne entgegen und hört still teglückt den Lehren und frommen Mahnungen
der Mutter zu (A, 3). Er bringt dem lieben Gott sein Dankesopfer für Genesung aus schwerer
Krankheit (A, 6) und klagt tiefbewegt um sein heimgegangenes Kindlein, um sein „Sternlein",
welches an seinem Lebenshimmel erloschen ist (A, 7) und er steht mit der trostlosen Mutter am
Grabe ihres Lieblings, sie aufrichtend mit der unerschütterlichen Zuversicht, daß das Kind nicht
verloren ist, daß es auferstehen wird (A, 8). Am Tage seiner silbernen Hochzeit ist sein Angebinde
für sein liebes Weib ein Lied voll überströmenden Dankes gegen Gott, der sie ihm gegeben, daß
sie seines Lebens Wohl und Wonne sei (A, 13).
Während dieses Wandsbecker Aufenthaltes gab er den „Wandsbecker Boten" heraus, eine
politische Zeitung, die wöchentlich viermal erschien. Das wichtigste daran waren die beiden be¬
sonderen Abteilungen „Gelehrte Artikel" und „Der poetische Winkel". Die hier abgedruckten Arbeiten
bedeutender Männer, wie die beiden Stolberge, Herder, Goethe, verschafften dem Blatte Ruf und Ver¬
breitung. Die meisten Beiträge lieferte Claudius selbst. Als der eigentliche „Bote Asmus" singt
er in einfachen Versen und Liedern von der Natur und ihren Herrlichkeiten (A, 2, 3, 4), von den
Leiden und Freuden des Familienlebens >s. oben), vom Glück des Bauernstandes (A, 2), er freut
sich seines bescheidenen Loses (A, 1), dem Vaterlande weiht er aus treuem Herzen seine Wünsche
zum neuen Jahre (A, 11). Er redet sodann in einfacher, herzlicher, liebenswürdiger Weise voir