Full text: Vierunddreißig Lebensbilder aus der deutschen Litteratur

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Neue und neuste Zeit. 
3. O Milon, mein Gemahl so süß, 
die Flut verschlang mir dich; 
die ich um Liebe alles ließ, 
nun läßt die Liebe mich. 
4. Klein Roland, du mein teures Kind! 
nun Ehr' und Liebe mir, 
klein Roland, komm herein geschwind, 
mein Trost kommt all von dir. 
5. Klein Roland, geh zur Stadt hinab, 
zu bitten um Speis' und Trank, 
und wer dir giebt eine kleine Gab', 
dem wünsche Gottes Dank!" — 
6. Der König Karl zur Tafel saß 
im goldenen Rittersaal; 
die Diener liefen ohn' Unterlaß 
mit Schüssel und Pokal. 
7. Von Flöten, Saitenspiel, Gesang 
ward jedes Herz erfreut 
doch reichte nicht der helle Klang 
zu Berthas Einsamkeit. 
8. Und draußen in des Hofes Kreis, 
da saßen der Bettler viel; 
die labten sich an Trank und Speis' 
mehr als am Saitenspiel. 
9. Der König schaut in ihr Gedräng' 
wohl durch die offene Thür, 
da drückt sich durch die dichte Meng' 
ein feiner Knab' herfür. 
10. Des Knaben Kleid ist wunderbar, 
vierfarb' zusammengestückt; 
doch weilt er nicht bei der Bettlerschar, 
herauf zum Saal er blickt. 
11. Herein zum Saal klein Roland tritt, 
als wär's sein eigen Haus, 
er hebt eine Schüssel von Tisches Mitt' 
und trägt sie stumm hinaus. 
12. Der König denkt: „Was muß ich sehn? 
Das ist ein sondrer Brauch!" 
Doch weil er's ruhig läßt geschehn, 
so lassen's die andern auch. 
13. Es stund nur an eine kleine Weil', 
klein Roland kehrt in den Saal; 
er tritt zum König hin mit Eil' 
und saßt seinen Goldpokal. 
14. „Heida! Halt an, du kecker Wicht!" 
Der König ruft es laut; 
klein Roland läßt den Becher nicht, 
zum König auf er schaut. 
15. Der König erst gar finster sah, 
doch lachen mußt' er bald: 
„Du trittst in die goldne Halle da, 
wie in den grünen Wald. 
16. Du nimmst die Schüssel von Königs Tisch, 
wie man Äpfel bricht vom Baum; 
du holst, wie aus dem Brunnen frisch, 
meines roten Weines Schaum." — 
17. „Die Bäuerin schöpft aus dem 
Brunnen frisch, 
die bricht die Äpfel vom Baum; 
meiner Mutter ziemet Wildbret und Fisch, 
ihr roten Weines Schaum". 
18. „Ist deine Mutter so edle Dam', 
wie du berühmst, mein Kind, 
so hat sie wohl ein Schloß lustsam 
und stattlich Hofgesind? 
19. Sag' an! wer ist denn ihr Truchseß? 
Sag' an, wer ist ihr Schenk?" — 
„Meine rechte Hand ist ihr Truchseß, 
meine linke, die ist ihr Schenk." 
20. „Sag' an! wer sind die Wächter treu?" 
„Meine Augen blau all' Stund!" 
„Sag' an! wer ist ihr Sänger frei?" 
„Der ist mein roter Mund." 
21. „Die Dam' hat wackre Diener, traun! 
Doch liebt sie sondre Livrei, 
wie Regenbogen anznschaun, 
mit Farben mancherlei." 
22. Ich hab' bezwungen der Knaben acht 
von jedem Viertel der Stadt; 
die haben mir als Zins gebracht 
vielfältig Tuch zur Wat." — 
23. „Die Dame hat nach meinem Sinn 
den besten Diener der Welt, 
sie ist wohl Bettlerkönigin, 
die offene Tafel hält? 
24. So edle Dame darf nicht fern 
von meinem Hofe sein. 
Wohlauf, drei Damen! auf, drei Herrn! 
Führt sie zu mir herein!" 
25. Klein Roland trägt den Becher flink 
hinaus zum Prunkgemach; 
drei Damen aus des Königs Wink, 
drei Ritter folgen nach. 
26. Es stund nur an eine kleine Weil', 
der König schaut in die Fern', 
da kehren schon zurück mit Eil' 
die Damen und die Herr'n. 
27. Der König ruft mit einem Mal: 
„Hilf Himmel! seh ich recht? 
Ich hab' verspottet im offnen Saal 
mein eigenes Geschlecht. 
28. Hilf Himmel! Schwester Bertha, bleich, 
im grauen Pilgergewand! 
Hilf Himmel! in meinem Prunksaal reich 
den Bettelstab in der Hand! —
	        
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