Full text: Vierunddreißig Lebensbilder aus der deutschen Litteratur

68 
Alte und mittlere Zeit. 
V. 
Die Tiersage. 
7. Reineke Fuchs. 
Übersetzt von Simrock. 
Der alten Heldensage ist die Tiersage verwandt. Diese konnte bei eineni Volke nur in einer 
Zeit entstehen, in welcher dasselbe noch in innigem und ungestörtem Verkehr mit der Natur 
stand, für das deutsche Volk also vor Gründung von Städten. 
Ja, der Ursprung der Tiersage ist auf die heidnische Zeit zurückzuführen, loo gewisse Tiere 
in engere Beziehung zu den Göttern gesetzt wurden. Den heidnischen Deutschen waren diese 
Tiere als Begleiterder Gottheiten, als Mitwisser ihrer Geheimnisse besonders verehrungswürdig', 
die heidnische Vorstellung, daß die Seelen abgeschiedener Menschen in Tiere übergehen, läßt 
die Angehörigen mit' einer gewissen Scheu aus solche Tiere sehen. Uralt ist auch die Meinung, 
daß einzelnen Tieren ein viel höheres Alter als den Menschen beschieden sei, so sagte man: 
Die Krähe erreicht 9 Menschenalter, der Hirsch 4 Krähenalter, der Rabe 3 Hirschalter. ^Vermöge 
ihrer Kühnheit und Stärke erschienen die Tiere den Deutschen als ebenbürtige Gegner, mit denen 
sie um das Jagdrevier zu kämpfen • hatten, und deren Besiegung so ehrenvoll als die eines 
Helden war. Dieser Auffassung sind denn auch die Namen entsprungen, welche den großen 
Raubtieren der deutschen Wälder beigelegt wurden, es waren nicht Gattungsnamen, wie unsere 
heutigen: Der Bär, der Wolf, der Fuchs, sondern Eigennamen, durch welche die Grundzüge 
des Wesens bezeichnet wurden. So hieß der Bär Brun (der Braune), der Wolf Jsangrim 
(Isegrim, der Eisenhelm), die Wölfin Here sw int ha (die beutegierig, mordlustig dem Heereszuge 
Folgende), der Fuchs Raginhart, zusammengezogen Reinhart (der im Rate Tüchtige, der 
Listige). Umgekehrt übertrug man diese Tiernamen aus Männer, um damit eine bestimmte Seite 
ihres Wesens zu bezeichnen, so die Namen Bruno, Bernhart (Bärenstark), Wolfgang, Wulf, 
Wulfila (Ülfilash Reinhart u. a. 
Die Tiere bilden zusammen ein Staatswesen, ein Reich, mit einem König an der Spitze, und 
zwar ist dies in der alten deutschen Tiersage der Bür, die übrigen sind seine Vasallen, mit denen 
er Reichstage abhält, um Recht zu sprechen. Trotzdem leben sie unter sich in grimmer Feind¬ 
schaft, oder sie empören sich wohl auch gegen den König. Die beiden wichtigsten Personen der 
Tiergeschichten, die schließlich zum Tierepos zusammengeschmolzen wurden, sind Jsangrim und 
Reinhart, und zwar ist jener immer der gewalthätige, grausame Räuber, der sich stets von seiner 
unersättlichen Gier blenden läßt und dadurch trotz seiner Kühnheit und Stärke meist unterliegt, 
ohne jemals durch Schaden klug zu werden. Reinhart dagegen ist immer der schlau und vorsichtig 
Berechnende, der planmäßig Vorgehende, der, obgleich er schwächer als Jsangrim ist, doch obsiegt, 
der sich aus jeder Not und Verlegenheit befreit und zugleich immer in boshafter Weise seine 
Gegner ins Verderben stürzt. 
Derjenige deutsche Stamm, der die Tiersage am eifrigsten pflegte, war der fränkische, welcher 
den Stoff auf seiner Wanderung über den Rhein mitnahm nach Frankreich, wo die einzelnen 
Tiergeschichten zu umfangreichen Dichtungen verarbeitet wurden, in denen das Lehrhafte, was 
jenen gänzlich fehlte, immer mehr hervortritt. In Frankreich wurde auch bald der Bär vom 
Königsthrone verdrängt und an seine Stelle der Löwe (Nobel) gesetzt. 
Aber auch in Deutschland wurde die Tiersage weiter ausgebildet: aus dem 11. und 12. Jahr¬ 
hundert sind noch zwei lateinische Bearbeitungen vorhanden, der Jsengrimus mit zwei und der 
Reinardus mit zwölf Geschichten. Aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts besitzen mir eine 
wenn auch unvollständige hochdeutsche Erzählung „Jsengrims Not" von dem alemannischen Dichter- 
Heinrich der Glichesüre, der Gleißner ( = der Heuchler oder Gleichnismacher). Im 13. Jahrhundert 
ist diese Dichtung von einem Ungenannten mit größter Schonung bearbeitet worden, er selbst legt 
Gewicht darauf, daß er so wenig wie möglich geändert; am Ende der Dichtung heißt es: „Hier 
endet diese Märe. — Das hat der Glichesüre, der Heinrich, gedichtet und die Reime umgerichtet. 
Die richtete nun ein anderer Mann, der auch ein wenig dichten kann, und zwar hat er es so gethan, 
daß er die Märe hat getan, wie sie vordem war unversehrt; um ein'ge Reime er sie vermehrt; 
ein Teil der Worte hat er abgebrochen, wo ihrer war zuviel gesprochen." 
Im 13. und 14. Jahrhundert wanderte die Tiersage aus Frankreich zurück in der Franken 
ursprüngliche Heimat an das rechte Ufer des Niederrheins nach den Niederlanden und wurde 
hier in niederdeutscher..Sprache bearbeitet. Diese Bearbeitung ivurde in das Holländische über¬ 
tragen. Eine freie Übersetzung oder auch Bearbeitung in plattdeutscher Sprache ist Reineke Vos 
(Reineke Fuchs), der im Jahre 1498 in Lübeck erschien. 
Die letzte Bearbeitung des vielbehandelten Stoffes hat im Jahre 1793, während der Be¬ 
lagerung von Mainz, Goethe vorgenommen, der über diese Arbeit an Jakobi schrieb: „Reineke ist 
fertig. Ich unternahm die Arbeit, um mich das vergangene Vierteljahr von der Betrachtung der 
Welthändel abzuziehen, und es ist mir gelungen." 
Goethes Arbeit ist eigentlich nur eine Übersetzung, nur hat er den der alten Helden- und 
Tiersage eigenen Versbau der kurzen Reimpaare in Hexameter verwandelt.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.