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„Angela Borgia“ steht als Ganzes noch auf der Höhe der besten Werke 
Meyers, aber an einzelnen Stellen bemerkt man bereits die beginnende Er— 
mattung des Dichters. Kaum war das Werk vollendet, so brach er, von 
der gewaltigen Arbeit der letzten zwanzig Jahre gebrochen, zusammen. Krank— 
heiten aller Art und zuletzt die von der Mutter ererbte Schwermut überfielen 
ihn und überwältigten ihn. Er mußte sich in eine Heilanstalt zurückziehen, 
und wenn auch die Umnachtung wieder wich, so kehrte doch die volle Frische 
des Geistes und vollends die frühere Arbeitskraft nicht wieder zurück In 
stiller Zurückgezogenheit, erfreut von einem wachsenden, wohlverdienten Ruhm, 
verbrachte er die letzten Lebensjahre auf seinem stillen Landsitz in Kilchberg. 
Am 28. November 1888 starb er. 
Noch bleibt sein bestes Werk zu betrachten, seine Lyrik. Der Dichter 
selbst erkannte deren Bedeutung nicht, vielleicht mit ein Grund, daß man sie 
noch heute vielfach unterschätzt. Mit der Lyrik begann ja Meyer naturgemäß 
sein poetisches Schaffen, aber auch sie wurde erst im Älter reif und groß. 
Erst die Sammlung der „Gedichte“ von 1882 bringt die, von kleinen Aus— 
nahmen abgesehen, endgültige, wahrhaft bedeutende Form der lyrischen Schöp⸗ 
fungen. Ein Vergleich dieser letzten Fassung mit den vor 1870 erschienenen 
„Balladen“ und „Romanzen und Bildern“ gibt ganz überraschende Lichtblicke. 
In der ersten Fassung gehen die Gedichte über ein gutes poetisches Mittelmaß 
kaum hinaus. Der Dichter ist noch viel zu redselig, in der Lyrik wie in der 
Ballade. Immer mehr ist darum in den folgenden Fassungen gekürzt, zusammen— 
gezogen, „kristallisiert“ worden, bis das echte Gold der Kunst, rein von allen 
Schlacken und edelsten Gebildes vor uns liegt. Zuweilen sind die Stimmungen 
zweier oder dreier längerer Gedichte in ein einziges, kurzes und ewiges 
Gedicht zusammengedrängt. Die Änderungen, denen Meyer seine Gedichte 
unterzog, geben die geheimsten Aufschlüsse über das Wesen der Lyrik. Mur 
ein Beispiel für Hunderte sei angeführt, wo die kleine Korrektur eine ganz 
überraschende Wirkung hervorbrachte. Das Gedicht „Der römische Brunnen“ 
hieß in der ersten Fassung: 
Der Springquell plätschert und ergießt 
Sich in der Marmorschale Grund, 
Die, sich verschleiernd, überfließt 
In einer zweiten Schale Rund; 
Und diese gibt, sie wird zu reich, 
Der dritten wallend ihre Flut, 
Und jede nimmt und gibt zugleich, 
Und alles strömt und alles ruüht. 
Meyer änderte 
Auf steigt der Strahl, und fallend gießt 
Er voll der Marmorschale Rund, 
Die, sich verschleiernd, überfließt 
In einer zweiten Schale Grund; 
Die zweite gibt, sie wird zu reich, 
Der dritten wallend ihre Flut, 
Und jede nimmt und gibt zugleich 
Und strömt und ruht. 
Wieviel edler und kräftiger ist schon der Anfang und nun der Schluß! 
Mit der ersten langen Schlußzeile liest sich das Ganze wie eine hübsche 
Strophe aus einem beliebig langen Gedichte die letzte Zeile klappt fast banal
	        
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