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im allgemeinen Rhythmus mit. Jetzt aber stockt vor ihr plötzlich der gleich— 
mäßige Rhythmus, und mit einer seltsam malerischen neuen Tonfigur schließt 
das Gedicht sich zum vollkommensten, festen Gebilde, an dem kein Wort zuviel 
ist, kein Ton verloren geht. Wie das Rauschen eines schönen Brunnens 
selbst tönt und verklingt das Gedicht. 
In seinen zahlreichen Balladen und Romanzen, die ja die Hauptmasse 
seiner Lyrik bilden, blieb Meyer durchaus dem Charakter und zumeist auch 
der Stoffwelt seiner Prosawerke treu. Mehr oder weniger bedeutende histo— 
rische Begebenheiten oder Personen, die gleichwohl für das allgemein Menschliche 
wichtig sind, stellt er in knappen, meisterhaft ausgeführten Bildern vor 
uns hin. Ein Teil dieser historischen Dichtungen sind kleine, abgeschlossene 
Novellen in Versen, wie etwa „Die kleine Blanche“, „Die Rose von New— 
port“, „Die Schlittschuhe“ und „Die Füße im Feuer.“ 
Fast noch bewundernswerter als in seiner Prosa versteht Meyer in solchen 
Balladen und historischen Charakterbildern das Dämonische und Bedeutungs— 
volle großer Zeiten und Gestalten in glänzender Gedrängtheit darzustellen; 
ferne Vergangenheit entschleiert ihr Geheimnis, ihre Seele. Die machtvollsten 
Gestalten der Weltgeschichte ziehen in scharfgezeichneten Bildern an uns 
vorüber: Alexander der Große, „der trunkene Gott“, Friedrich IIL., der geist— 
volle, freie Hohenstaufe, der den Dichter so viel beschäftigte, Otto der Große, 
Luther, Hutten, Napoleon. Und neben der großen, freskoartigen Zeichnung 
dieser historischen Persönlichkeiten stehen ebenbürtig die Darstellungen großer, 
merkwürdiger Epochen: „Venedigs erster Tag“, „Der Berg der Seligkeiten“, 
und vor allem die feinen Kulturbilder, die, wie in einem edlen Rahmen, das 
Wesen ganzer vergangener Jahrhunderte zusammenfassen und verklären. Voran 
stehen hier die Bilder aus der Antike: „Die sterbende Medusa“, „Die Schule 
des Silen“, und das edelste: „Das Ende des Festes“ 
Da mit Sokrates die Freunde tranken 
Und die Häupter auf die Polster sanken, 
Kam ein Jüngling, kann ich mich entsinnen 
Mit zwei schlanken Flötenbläserinnen. 
Aus den Kelchen schütten wir die Neigen, 
Die gesprächesmüden Lippen schweigen, 
Um die welken Kränze zieht ein Singen.. 
Still! Des Todes Schlummerflöten klingen! 
Ähnliche reliefartige Bilder, in denen der Moment festgehalten und 
gleichsam versteinert wird, gelangen dem Dichter in nicht geringer Zahl: 
Schillers Bestattung“, der schon erwähnte „Römische Brunnen“, „Ernte— 
gewitter“ „Der Marmorknabe“. Niemals bleiben diese Bilder bloß be— 
schriebene Bilder, sie leben und sind von einer tiefen geistigen Bedeutung 
erhellt. Selbst dort, wo er seinen Dichtungen bekannte Bildwerke unmittelbar 
zugrunde legt, beschreibt er diese nicht nur, sondern gestaltet sie in seiner 
Weise und gibt ihnen Bewegung und tiefere Deutung, wie am schönsten „Die 
gegeißelte Psyche“ zeigt: 
Wo von alter Schönheit Trümmern 
Marmorhell die Säle schimmern, 
Windet blaß und lieblich eine 
Psyche sich im Marmelsteine.
	        
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