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sind nur lichte Schleier über dunklen Gedanken:
Hinweg du dunkle Klage
Aus all dem Licht und Glanz!
Den Schmerz verlorner Tage
Bedeckt ein frischer Kranz.
Aber bei aller verhaltenen Wehmut spricht kein weichlicher Sinn aus
diesen Gedichten. Ein mildes, verklärtes Leuchten geht aus des Dichters Herzen
über die Welt und umgekehrt aus der Welt in des Dichters Herz:
In meinem Wesen und Gedicht
Allüberall ist Firnelicht,
Das große, stille Leuchten).
Nichts ist für Meyer bezeichnender als dieses große, stille Leuchten der
Seele, diese zärtliche, stille Liebe zu Leben und Welt. Seine schönsten Ge—
dichte: „Auf Goldgrund“, „Requiem“, „Neujahrsglocken“, „Nachtgeräusche“,
„Abendwolke“, „Im Spätboot“ sind davon erfüllt. Was nur dem großen
Geist gelingt, gelang dem Dichter: bei aller Erkenntnis des wahren Wesens
der Welt und ihrer Nichtigkeit stand er ihr doch vertrauend und gläubig,
freudig gegenüber. Wenn er auch zuweilen bedrückt auf den „Chor der Toten“
horchte und sich unter dem lastenden Einfluß vergangener Geschlechter fühlte,
so sah er dennoch mutvoll in die Zukunft und träumte von einer kommenden
Seligkeit der ganzen Menschheit, wo „Alle“ um die reichen Tische des Lebens
versammelt sind:
Es sprach der Geist: „Sieh auf!“ Die Luft umblaute
Ein unermeßlich Mahl, soweit ich schaute,
Da sprangen reich die Brunnen auf des Lebens,
Da streckte keine Schale sich vergebens,
Da lag das ganze Volk auf vollen Garben,
Kein Platz war leer, und keiner durfte darben.
Der heilige Ernst, mit dem Meyer seine Kunst pflegte, wofür „Das
heilige Feuer“ und „Fülle“ die schönen Selbstzeugnisse sind, trug unserer
Literatur herrliche Früchte. Seine lyrischen Dichtungen sind das köstlichste
Werk seines Lebens und vielleicht die bedeutendste künstlerische Erscheinung der
modernen Zeit. Denn das ist das Seltsame, mag Meyer auch noch so oft
seine Stoffe aus der Antike, der Renaissance oder einer anderen vergangenen
Zeit nehmen, er ist ein durchaus moderner Mensch und Dichter. Er ist der
erste große Lyriker, der weder klassische noch romantische Bahnen geht und
dennoch zur höchsten, abgeklärten Schönheit durchdringt. Er erhob den Realismus
auf die reinste Höhe der Kunst, auf der bisher nur Klassizismus und Romantik
sich gehalten. Das Wirkliche und das Schöne gingen bei ihm eine vollkommene
Verbindung ein, ohne daß ein Erdenrest blieb. Mit ihm war die epigonenhafte
Lyrik der Nachklassiker und Nachromantiker in der Tat überwunden, zugleich
aber auch der übertriebene, vielfach kindische Naturalismus der achtziger Jahre.
Meyer brachte eine edlere Kultur der Lyrik, führte diese erste aller Künste auf
eine neue Stufe. Und so ragt er groß in die Gegenwart hinein, die sich
nach dem Zwischenspiel der naturalistischen Dichtung bemüht, an die schönen
Maße, an die edle Vornehmheit und geistvolle Tiefe der Meyerschen Kunst
anzuknüpfen.
N Finelichl.
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