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Der Beruf bildet den Mittelpunkt, um den sich normalerweise das ganze 
Leben sammelt. Der Knabe sucht und übt spielend den künftigen Beruf, den 
Jüngling entführt seine Erlernung aus dem Elternhaus und in die Welt, der 
Mann widmet der Berufsübung seine Kraft und Sorge. Der Beruf bestimmt 
auch im wesentlichen die Beziehungen zur Lebensumgebung, er führt mit den 
Genossen bei Arbeit und Feier zusammen; um die Berufsarbeit schlingt sich 
die freie Betätigung der Kräfte im Spiel. So ist der Beruf das Herrschende 
im Leben; er gibt ihm Zusammenhang und Ziel, Ernst und Stetigkeit. 
Die innere Notwendigkeit der täglichen Berufsarbeit liegt sichtbar zu 
Tage in den Folgen, die da eintreten, wo sie fehlt. In doppelter Gestalt 
kommt Berufslosigkeit vor, bei Armen und bei Reichen. Die Gruppe der 
Berufslosen, welche am unteren Rande der Gesellschaft als Bodensatz sich bildet, 
ist das eigentliche Proletariat. Es setzt sich aus solchen zusammen, die 
ohne stetige Arbeit ihren Lebensunterhalt bald hier, bald dort, bald so, bald 
anders gewinnen, erlungern, erbetteln, stehlen. Arbeitscheu, Liederlichkeit, 
Trunksucht, Eitelkeit, Leichtsinn sind die Eigenschaften, die das Individuum in 
diese Gruppe hinabziehen. Übrigens pflanzt sich das proletarische Leben durch 
Vererbung fort; verkommene Familien erziehen eine verkommene Nachkommen— 
schaft. Der eigentliche Boden, in dem das Proletariat gedeiht, ist die Groß— 
stadt. Die Begehrlichkeit, die hier großgezogen wird, die Verführung, die in 
tausend Gestalten umgeht, die Vereinzelung und die Anonymität, worin der 
einzelne unter der Masse lebt, der gelegenlliche Arbeitsmangel und die Ver— 
lassenheit, die über ihn kommen, alles das sind günstige Entwicklungsbedingungen 
für das proletarische Leben. In der Ehr⸗ und Schamlosigkeit, welche in 
Arbeitshäusern und Gefängnissen erworben wird, vollendet es sich. 
Eine andere Gruppe von Berufslosen bildet sich am oberen Rande der 
Gesellschaft, es sind die berufsmäßigen Müßiggänger, die im Besitz von 
Renteneinkommen sich selbst von Beruf und Arbeit dispensieren. Von außen 
gesehen ist das Bild, das ihr Leben darbietet, ein anderes als das der ersten 
Gruppe; von innen gesehen zeigt es doch manche ähnliche Züge; übrigens 
fehlt es auch nicht an persönlicher Berührung. Gemeinsam ist beiden der 
Zug in die Großstadt, gemeinsam eigentümliche Mißbildungen im Gebiet der 
Ehre, gemeinsam vor allem die innere Unruhe und die äußere Zerfahrenheit 
des Lebens. Wie ein Schiff ohne Ladung von Wind und Wetter haltlos 
umhergeworfen wird, so ist das Leben des reichen Müßiggängers ein Spiel 
aller eben auftauchenden Meinungen, Stimmungen und Qaunen. Da nichts 
notwendig ist, so wird bald dieses, bald jenes ergriffen, und alsbald wieder 
weggeworfen. Die Fähigkeit zu wollen, die nichts anderes ist als die Fähig— 
keit, bei einer Sache auszuharren, auch wenn die augenblickliche Neigung 
nicht darauf gerichtet ist, stirbt, da sie nicht geübt wird, allmählich ganz ab, 
und der Mensch geht an unheilbarer Willenserweichnng zugrunde. 
Denn die Natur hat die lebenden Wesen nicht auf das Genießen, sondern 
auf das Erstreben und Erwerben angelegt; der Versuch, bloß genießend zu 
leben, ist noch immer fehlgeschlagen, so einleuchtend und möglich die Sache 
zunächst aussieht. Saure Wochen, frohe Feste, das ist das alte Naturgesetz; 
ohne jene sind auch diese nicht zu erlangen. Wer die Freiheit der Berufs— 
wahl, welche der Reichtum gewährt, dazu anwendet, keinen überhaupt zu 
wählen, sondern sich von aller bindenden Verpflichtung zu dispensieren, der
	        
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