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Außerdem ist die Tugend weit mehr geschickt, sich selbst zu belohnen,
als das glücklichste Laster, sich zu bestrafen; eben deswegen wird der Recht¬
schaffene im Unglück weit eher der Tugend getreu bleiben, als der Lasterhafte
im Glück zur Tugend umkehren.
Vorzüglich aber kommt es bei Bestimmung des Verhältnisses der Lust
zu der Unlust in Rührungen darauf an, ob der verletzte Zweck den erreichten,
oder der erreichte den, der verletzt wird, an Wichtigkeit übertreffe. Keine
Zweckmäßigkeit geht uns so nahe an als die moralische, und nichts geht über
die Lust, die wir über diese empfinden. Di? Naturzweckmäßigkeit könnte noch
immer problematisch sein, die moralische ist uns erwiesen. Sie allein gründet
sich auf unsere vernünftige Natur und auf innere Notwendigkeit. Sie ist uns
die nächste, die wichtigste, und zugleich die erkennbarste, weil sie durch nichts
von außen, sondern durch ein inneres Princip unserer Vernunft bestimmt wird.
Sie ist das Palladium unserer Freiheit.
Diese moralische Zweckmäßigkeit wird am lebendigsten erkannt, wenn sie
im Widerspruch mit andern die Oberhand behält; nur dann erweist sich die
ganze Macht des Sittengesetzes, wenn es mit allen übrigen Naturkräften im
Streit gezeigt wird, und wenn zugleich alle neben ihm ihre Gewalt über ein
menschliches Herz verlieren. Unter diesen Naturkräften ist alles begriffen, was
nicht moralisch ist, alles, was nicht unter der höchsten Gesetzgebung der Ver¬
nunft steht, also Empfindungen, Triebe, Affekte, Leidenschaften so gut als die
physische Notwendigkeit und das Schicksal. Je furchtbarer die Gegner, desto
glorreicher der Sieg; der Widerstand allein kann die Kraft sichtbar machen.
Aus diesem folgt, „daß das höchste Bewußtsein unserer moralischen Natur nur
in einem gewaltsamen Zustande, im Kampfe erhalten werden kann, und daß
daß höchste moralische Vergnügen jederzeit von Schmerz begleitet sein wird."
Diejenige Dichtungsart also, welche uns die moralische Lust in vorzüg¬
lichem Grade gewährt, muß sich eben deswegen der gemischten Empfindungen
bedienen und uns durch den Schmerz ergötzen. Dies thut vorzugsweise die
Tragödie, und ihr Gebiet umfaßt alle möglichen Fälle, in denen irgend eine
Naturzweckmäßigkeit einer moralischen oder auch eine moralische Zweckmäßigkeit
der andern, die höher ist, aufgeopfert wird. Es wäre vielleicht nicht unmög¬
lich, nach dem Verhältnis, in welchem die moralische Zweckmäßigkeit im Wider¬
sprüche mit der andern anerkannt und empfunden wird, eine Stufenleiter des
Vergnügens von der untersten Stufe bis zur höchsten hinaufzuführen und den
Grad der angenehmen und schmerzhaften Rührung a priori aus dem Princip
der Zweckmäßigkeit bestimmt anzugeben. Ja vielleicht ließen sich aus eben
diesem Princip bestimmte Ordnungen der Tragödie ableiten und alle möglichen
Klassen derselben a priori in einer vollständigen Tafel erschöpfen, so daß man
imstande wäre, jeder gegebenen Tragödie ihren Platz anzuweisen und den Grad
sowohl als die Art der Rührung im voraus zu berechnen, über den sie sich
vermöge ihrer Species nicht erheben kann. Aber dieser Gegenstand bleibt einer
eigenen Erörterung vorbehalten.
Wie sehr die Vorstellung der moralischen Zweckmäßigkeit der Naturzweck¬
mäßigkeit in unserm Gemüte vorgezogen werde, wird aus einzelnen Beispielen
einleuchtend zu erkennen sein.
Wenn wir Hüon und Amanda an den Marterpfahl gebunden sehen,
beide aus freier Wahl bereit, lieber den fürchterlichen Feuertod zu sterben als