Full text: Auswahl aus der deutschen Dichtung in ihrer geschichtlichen Entwicklung (Teil 4a = Erg.-Bd. (Poesie))

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6. Aus Otfrieds Krist. 
Nach P. Piper, Die älteste deutsche Literatur. Berlin, Spemann. 
Der Benediktinermönch Otfried aus Weißenburg im Elsaß, der erste dem Namen nach 
bekannte deutsche Dichter, verfaßte um 860 ein althochdeutsches Evangelienbuch 
(„Krist“) und wandte dabei nicht mehr den Stabreim, sondern den Endreim an. 
Der Krist ist das früheste größere Denkmal deutscher Reimpoesie. 
Die Flucht nach Ägypten. 
Joseph io thes sinthes er hüatta thes kindes, 
uuas thionöstman güater, bisuorgöta ouh thia müater. 
Ther engil sprah imo zua: „thu sc alt thih hoffen filu frua; 
fliuh in anderaz lant, bimid ouh thesan flaut. 
5 In aegypto uuis thu sär, unz ih zeigo auur thär 
uuanne thu biginnes thes thines heiminges. 
Niläz iz nn untarmüari, thia müater tharafuari; 
thaz kind ouh iogillcho bisuorge herlicho. 
Ther küning uuilit sliumo inan süachen ingiriuno 
10 mit bizenten suerton, nales mit then uuörton. 
Hügi filu harto thero minero uuorto, 
in herzen giuuaro uuärtes, thaz thuns thia früma haltes.“ 
Er fuar sär thera ferti ndhtes mit giuuürti; 
thaz iz niuuurti märi ioh baz firhölan uuäri; 
15 Er ouh thaz ingiangi, siu uuäfan nibifiangi: 
bi thiu uuas er so örachar ioh harto filu uuachar. 
Siu füart er noh niduälta in laut, thaz ih nu zalta; 
thär uuas ther sün guato, unz starb ther göteuuuoto. 
Thö uuard thär irfullit, thaz förasago singit, 
20 fon goto seltsänaz ioh uuüntar filu uuäraz. 
Er quäd, er uuolti herasun sinan einigan sun 
laden thanana ir läute, er sinan liut halte. 
Joseph stets bei der Gelegenheit hütete des Kindes, 
war ein dienstergebner Mann, sorgte auch für die Mutter. 
Der Engel sprach zu ihm: „Du sollst dich aufmachen ganz früh, 
fliehe in andres Land, vermeide auch diesen Feind. 
In Ägypten sei du alsbald, bis ich wieder dort kundgebe, 
wann du beginnest deine Heimreise. 
Unterlaß es nicht, führe die Mutter dahin; 
das Kind auch in gleicher Weise versorge sorgfältig. 
Der König will schleunig ihn suchen im geheimen 
mit beißenden Schwertern, nicht mit den Worten. 
Denke gar sehr meiner Worte, 
im Herzen sorgsam achtest du, daß du uns den Segen erhaltest.“ 
Er fuhr sogleich des Wegs bei Nacht mit Freude, 
daß es nicht bekannt werde und besser verhohlen wäre, 
er auch dem entginge, daß sie das Schwert nicht erfaßte; 
deshalb war er so früh auf und gar sehr wachsam. 
Sie führte er und nicht zauderte er in ein Land, das ich nun nannte; 
da war der gute Sohn, bis starb der Gottesfeind. 
Da ward da erfüllt, was der Prophet verkündet, 
von Gott seltsamliches und sehr wahres Wunder. 
Er sagte, er wollte herwärts seinen einigen Sohn 
entbieten von da aus dem Lande, daß er sein Volk rette. 
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