Full text: Auswahl aus der deutschen Dichtung in ihrer geschichtlichen Entwicklung (Teil 4a = Erg.-Bd. (Poesie))

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7» Das Älaltbarilied. 
Das Waltharilied, ein inhaltlich dem allemannischen Sagenkreise angehöriges Gedicht, ist 
ursprünglich als lateinische Schularbeit vom Mönch Ekkehard von St. Gallen um 930 
n. Chr. für seinen Lehrer Geraldus verfaßt, von diesem verbessert und etwa ein Jahr¬ 
hundert später vom St. Galler Mönch Ekkehard IV. (f ca. 1060) nochmals überarbeitet. 
Erscheint der Sagenstoff auch in lateinischem Gewände, so ist er doch in seiner Eigenart 
durchaus deutsch. Das Gedicht ist u. a. von V. v. Scheffel im „Ekkehard" (Stuttgart, 
Bonz) und von F. Linnig (Paderborn, Schöningh) aus dem Lateinischen ins Deutsche 
rückübersetzt. 
Der Hunnenkönig Attila (Etzel), auch „Gottesgeißel" genannt, kommt auf seinem 
Zuge durch Europa an den Rhein, nach Burgund und Aquitanien. Alle Reiche unter¬ 
werfen sich und stellen Geiseln: König Gibich von Worms gibt, da sein Sohn Günther 
noch zu jung ist, den, Hagen von Troja (Tronje, Tronei), der Burgundenkönig Herrich 
seine einzige Tochter Hildegunde und der Westgotenkönig seinen Sohn Wallher, der schon 
im Kindesalter mit Hildegunden verlobt worden war. Mit dieser Beute und unerme߬ 
lichen Schätzen kehrt Etzel nach Ungarn zurück, wo die Knaben im Waffendienst erzogen, 
Hildegunde aber von der Königin Ospirin(Helche, Helke) in Obhut genommen wird. 
Trotz freundlicher Behandlung, die allen zuteil wird, erwacht in ihnen mächtig die Heimats- 
liebe und läßt sie auf Flucht sinnen. Hagen entflieht zuerst, als er hört, daß König 
Gibich gestorben sei. Walther und Hildegunde, das Gelöbnis der Väter kennend, beraten, 
nachdem die Jungfrau Walther auf seine Treue hin geprüft hat, einen gemeinsamen 
Fluchtversuch. 
1. Er schritt zu den Gemächern des Königs, doch statt sein 
Fand er im innersten Raum Hildegunden ganz allein. 
Nach Hofbrauch sie umarmend mit dem Begrüßungskuß, 
Sprach er: „Edeltraute! Daß ich nicht verschmachten muß, 
2. Schnell einen Becher Weines!" Die Jungfrau dient ihm gern, 
Und als die edle Labung sie reicht dem müden Herrn, 
Umfaßt er mit der Schale zugleich der Schenkin Hand; 
Sie duldet es, in Schweigen fragend auf ihn den Blick gewandt. 
3. Er trinkt, und in die Rechte, die er umfing im Scherz, 
Gibt er zurück den Becher. Zu prüfen, ob ihr Herz 
Bewahrt der Eltern Hoffen, ergreift er nun das Wort: 
„Wie lange soll uns das Elend fesseln an diesen Ort, 
4. Eh' wir des Eids gedenken, der uns als Kinder band? 
Vergraben wir in Schweigen der Väter heil'ges Pfand?" 
Die Jungfrau noch im Zweifel, wohin die Rede zielt, 
Um ihren Sinn zu sammeln, ein kurzes Weilchen Schweigen hielt; 
5. Dann gibt sie ihm entgegen: „Ein Vogel ist mir kund, 
Der flötet fremde Weisen mit leicht verstelltem Mund; 
Sie nennen ihn den Spötter. — Was deine Zunge rät, 
Dir in tiefster Seele ist als Torheit längst verschmäht. 
6. Dem unter Königinnen Etzel gab die Wahl 
Und sich zum Hochzeitsvater selbsten anempfahl, 
Daß auch des Kaisers Tochter ihm würde nicht versagt: 
Wie müßtest du dich schämen, dächtest du an Helchens Magd!"
	        
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