Full text: Deutsches Lesebuch für die oberen Klassen höherer Schulen

Friedrich von Schiller. (1759—1805.) 
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4. So lang' er glaubt, daß dem ird'schen Verstand 
Die Wahrheit je wird erscheinen — 
Ihren Schleier hebt keine sterbliche Hand, 
Wir können nur raten und meinen. 
Du kerkerst den Geist in ein tönend Wort, 
Doch der freie wandelt im Sturme fort. 
5. Drum, edle Seele, entreiß dich dem Wahn, 
Und den himmlischen Glauben bewahre! 
Was kein Ohr vernahm, was die Augen nicht sah'n, 
Es ist dennoch, das Schöne, das Wahre! 
Es ist nicht draußen, da sucht es der Thor; 
Es ist in dir, du bringst es ewig hervor. 
Hoffnung. 
1. Es reden und träumen die Menschen viel 
Von bessern künftigen Tagen; 
Nach einem glücklichen, goldenen Ziel 
Sieht man sie rennen und jagen. 
Die Welt wird alt und wieder jung, 
Doch der Mensch hofft immer Verbesserung! 
2. Die Hoffnung führt ihn ins Leben ein, 
Sie umflattert den fröhlichen Knaben, 
Den Jüngling locket ihr Zauberschein, 
Sie wird mit dem Greis nicht begraben: 
Denn beschließt er im Grabe den müden Lauf, 
Noch am Grabe pflanzt er — die Hoffnung auf. 
3. Es ist kein leerer, schmeichelnder Wahn, 
Erzeugt im Gehirne des Thoren, 
Im Herzen kündet es laut sich an: 
Zu was Besserm sind wir geboren; 
Und was die innere Stimme spricht, 
Das täuscht die hoffende Seele nicht. 
Das Lied von der Glocke. 
Yivos voco. Mortuos plango. Fulgura frango. 9 
Fest gemauert in der Erden 
Steht die Form, aus Lehm gebrannt. 
Heute muß die Glocke werden! 
Frisch, Gesellen, seid zur Hand! 
5 Von der Stirne heiß 
Rinnen muß der Schweiß, 
Soll das Werk den Meister loben; 
Doch der Segen kommt von oben. 
Zum Werke, das wir ernst bereiten, 
io Geziemt sich wohl ein ernstes Wort! 
Wenn gute Reden sie begleiten, 
Dann fließt die Arbeit munter fort. 
So laßt uns jetzt mit Fleiß betrachten, 
Was durch die schwache Kraft entspringt: 
15 Den schlechten Mann muß man verachten, 
Der nie bedacht, was er vollbringt. 
Das ist's ja, was den Menschen zieret, 
Und dazu ward ihm der Verstand, 
Daß er im innern Herzen spüret, 
20 Was er erschafft mit seiner Hand. 
Nehmet Holz vom Fichtenstamme, 
Doch recht trocken laßt es sein, 
Daß die eingepreßte Flamme 
Schlage zu dem Schwalcht) hinein! 
25 Kocht des Kupfers Brei, 
Schnell das Zinn herbei, 
Daß die zähe Glockenspeise 
Fließe nach der rechten Weise! 
Was in des Dammes tiefer Grube 
30 Die Hand mit Feuers Hülfe baut, 
Hoch auf des Turmes Glockenstube, 
j Da wird es von uns zeugen laut. 
1) Inschrift einer 1486 gegossenen Glocke im Münster zu Schaffhausen. 
2) Öffnung, durch welche die Flamme aus dem das Feuer entbaltenden Teile des Ofens, indem man 
ihn oben schließt, in den das Metall enthaltenden zu schlagen genötigt wird.
	        
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