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gebirge in reicher Fülle spendet, so sind die Seen am Fuße des Gebirges, am
Ausgange der Alpenthäler,die Sammelbehälter und Läuterungsbecken der Alpen¬
flüsse. In ihnen lernen die rauschenden, mit Ungestüm daher schäumenden Ge¬
wässer ihre Wut bezähmen. Der Alpenstrom stürzt sich, nachdem er bis dahin
auf seinem Wege oft nur Zerstörung angerichtet hat, wild tobend mit seinen
geschiebreichen, unklaren Gewässern in den See, setzt die mitgewälzten erdigen
und felsigen Lasten darin ab, und tritt, abgeklärt, in dem prächtigsten, reinsten
Smaragdgrün erglänzend, in seinem Sturze gezügelt, am unteren Ende des
Sees hervor, um zwar noch in voller Jugendfrische, aber doch mit mehr geord¬
netem und gemüßigtem Gange den anliegenden Gebieten den Segen der Frucht¬
barkeit zu spenden und Handelsverkehr und Gewerbfleiß zu beleben.
Italien,
von Ritter.
Italien ist das Land der Geschichte. In seine Geschichte ist die Geschichte
aller andern Länder, Völker und Staaten Europas auf das genaueste verfloch¬
ten. Italien ist das Land der Monumente aller Art, nicht bloß wie Griechen¬
land durch kurze' Jahrhunderte für Architekturen, sondern durch ganze Jahr¬
tausende hindurch bis heute für alle Zweige der Entwicklung der modernen
Völker. Dieser klassische Boden selbst ist zwar räumlich derselbe geblieben, die
Natur hat auch da, wie überall ihre Grundanlage behauptet, aber der Entwick¬
lungsgang der Geschichte hat sich des Bodens wie in keinem andern Lande be¬
mächtigt, hat ihn verschönert und bereichert oder entstellt und umgestaltet je nach
der Art der Zeiten und der Völker. Bei diesem historischen Charakter steht die
italienische Landschaft im größten Kontrast mit den Landschaften anderer Pla¬
netenstellen, die rein der Produktion der Naturkräfte überlassen blieben. In
Italien sind es fast nur noch die Meereswellen, die Vulkangestalten und ihre
Plutonischen Bildungen, die Felsklippen und Plateaurücken, die aromatischen
Heidegegenden, die sparsamen Gruppen der wilden Kastanienwälder, welche die
Natur sichln ihrer von Menschenhand unberührten Gestaltung vorbehielt. Da¬
gegen hat sich die Kultur des größeren Teiles des italienischen Bodens bemäch¬
tigt. Dreierlei Kultursysteme sind auf eigentümliche Weise durch das Halbinsel¬
land verteilt und danach sind aus demselben auch drei Hauptregionen zu unter¬
scheiden. Die Verschiedenheit der Klimate, der Produktionen, der Landessitte,
der Lebensweise, der Ansiedelungen ordnet sich dem jedesmaligen Haupttypus
dieser drei Kultursysteme unter, und daraus erklärt sich die große Mannigfaltig¬
keit der landschaftlichen Erscheinungen zur Genüge.
Das erste Kultursystem, das lombardische, besteht in der Bewirtschaftung
des Bodens durch die kleine Güterteilung und der Irrigation der Ebenen.
Seine Region breitet sich aus vom Mont Cenis ostwärts bis zum Adriameere
durch die ganze Weite der Lombardei, von den Alpen bis zum Nordfuße des
Apennins. Der Po mit seinen Nebenflüssen bewässert die weite Ebene auf das
reichlichste. Es ist dies wohl der größte Garten von Europa mit dem erdenklich
fruchtbarsten Boden, mit der aufgehäuftesten Bevölkerung und den dichtgedräng¬
testen Wohnstätten, Städten, Gartenhäusern, Landsitzen, Villeggiaturen, Palästen,
Kanälen, Heerstraßen, Vicinalwegen und allen Arten von menschlichen Anlagen.
Dieselbe Region wiederholt sich gleichartig in allen Fruchtebenen der südlichen
Halbinsel, doch nirgends in so großem Maßstabs, in Toskana am Arno, in ein¬