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Einbildungskraft, sich selbst überlassen, erschafft Phantome, aber die Sinne ver¬
scheuchen sie; doch manchmal auch lassen sie sich von jener bethören, so daß wohl
gar Gespenster mit Augen gesehen werden. Starkes Gedächtnis findet sich bei
schwachem Verstände und umgekehrt; die Ausbildungskraft des Einen läßt Nach¬
teil besorgen für das Andere. Noch weniger Frieden hält der Verstand mit den
Sinnen. Er entdeckt ihren Trug, er zeigt, daß die Sonne still steht und das
Ruder auch im Wasser gerade ist. Er erblickt einfache Gesetze, wo die Sinne
lauter Unordnung sahen. Nicht besser vertragen sich Verstand und Einbildungs¬
kraft; er findet sie thöricht und flatterhaft, sie ihn unbehülflich und trocken. Besser
als beide dünkt sich die Urteilskraft. Der Verstand wußte nur die Regel, sie
erst erkennt das Rechte und Wahre mit Bestimmtheit im Einzelnen. Aber die
Vernunft erscheint. Sie schwingt sich auf zum Übersinnlichen, Unendlichen, zur
eigentlichen Wahrheit, während alle jene auf dem Boden der Erscheinungswelt
kriechen. Bei diesen Streitigkeiten bleiben Gefühl und Begehrungsvermögen
nicht müßig. Die letzte Entscheidung über Wahrheit und Irrtum behauptet am
Ende das Gefühl. Insbesondere spricht es bald für, bald wider den Verstand,
der doch seinerseits gegen die Einmischungen des Gefühls in seine Untersuchungen
sich nachdrücklich verwahrt. Die Begierden bedienen sich des Verstandes, wo er
ihnen nützlich sein kann, aber sie verweisen ihm seine difficiles nugas, seine brot¬
losen Künste. Er will von ihnen nicht gestört, am wenigsten verblendet sein.
Doch muß er weichen oder frönen, da sogar die Vernunft sich ihrer nicht er¬
wehren und das Vernünfteln der Leidenschaft nicht verhindern kann. Die ästhe¬
tische Urteilskraft kämpft wider die Sinnenlust, und sie verteidigt zuweilen die
Einbildungskraft wider den Verstand. Aber die Vernunft pflegt ihr zu wider¬
sprechen und das Schöne mit dem Häßlichen in den Rang bloßer Erscheinungen
zurückzustellen. Unser eigenes Ich ist der Kampfplatz für alle diese Streitigkei¬
ten, ja es ist selbst die Gesamtheit aller dieser streitenden Parteien! Die Frage
ist, ob eine wirkliche Vielheit von Kräften, die mit einem beharrlichen Dasein in
uns bestehen und wirken, und einander bald helfen, bald anfeinden, aus den
Thatsachen solle geschlossen werden, ob man immer fortfahren wolle, dem augen¬
scheinlich flüssigen Wesen aller Gemütszustände Trotz zu bieten und, je mehr
dieselben jeder Auffassung in harten und starren Formen widerstreben, desto
hartnäckiger und eifriger ihnen dergleichen aufzudringen. Unsere Philosophen
fangen schon an, sich zu entschuldigen, wenn sie aus Not, wie sie meinen, und
weil man sich doch müsse ausdrücken können, von Seelenvermögen reden. Sie
wollen es schon nicht Wort haben, daß sie wirklich und im Ernste jene Trennun¬
gen vorgenommen hätten.
F.
Religion.
Philosophie und Religion,
von Solger.
Unter allen, welche die Philosophie anfeinden, sind mir ohne Vergleich die¬
jenigen die liebsten, die in der That ihre stärksten Gegner sind, die sich nämlich
in vollem Ernste an der Offenbarung begnügen. Was diese wahrhaft Frommen
betrifft, so kommt es auch bei diesen darauf an, ob sie recht deutlich wissen, was