Full text: Deutsches Lesebuch für die oberen Klassen höherer Schulen

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Und nun wiederum blicket in einer klaren Nacht über euch nach den Ster¬ 
nen: welch ein anderer Tempel Gottes eröffnet sich euch dort! Ausgespannt ist 
die unermeßliche Feste des Äthers, Räume umfassend, deren Ausdehnung unserm 
irdischen Sinne unergründlich, undenkbar ist; unzählige Lichtwelten wälzen sieb 
in ihm, Lichtströme fluten hindurch, deren jeder Tropfen eine Sonne, jede Welle 
ein Weltensystem ist. Aus unzählbaren Sternen fließen die Lichtstrahlen in dein 
kleines Auge zusammen, Strahlen, die mit der Schnelligkeit des Blitzes Jahr¬ 
tausende brauchten, ihren Weg zurückzulegen bis in dein Auge. Diese Sonnen 
alle mit ihren dienstbaren Welten tanzen vor dem Herrn ihren Reigen; „er 
nennt sie alle mit Namen." H „Er führt sie, wie ein Heer, bei der Zahl heraus; 
freudig leuchten sie vor ihm auf ihrer Wacht, und wenn er sie hervorruft, ant¬ 
worten sie: Hier sind wir! " 2) Er weiset ihnen ihre Bahnen, die sie nicht über¬ 
schreiten; in majestätischer Ruhe, in schönem Ebenmaße wandeln sie vor seinem 
Blicke, und die Harmonie ihres Sphärenklanges ist sein ewiger Lobgesang. 
Und dieses lichte wohlgeordnete Weltall, gegen das unsere Erde mit all ihrer 
Herrlichkeit minder ist, als ein Tropfen am Eimer, als ein Sandkorn am Meeres¬ 
ufer, ist es nicht ein würdiger Tempel Gottes? Und wer erbaute ihn? Sein 
heiliger Geist, die ewige Weisheit. Hören wir sie selbst reden! Also spricht sie 
durch Salomos Mund: „Als er die Himmel bereitete, war ich zugegen; als er 
nach sicherm Gesetze den Abgrund in die Runde faßte, als er den Äther droben 
festete und die Brunnen der Tiefe abwog, als er dem Meere sein Ziel setzte und 
den Wassern ihre Grenze, als er den Grund der Erde legte, da war ich bei ihm als 
der alles ordnende Werkmeister."3) Und was setzt die ewige Weisheit, der Geist 
Gottes hinzu? Höret das wunderbare Wort: „Meine Freude ist auf der Erde, 
und meine Lust ist's, zu wohnen bei den Menschenkindern!" Also alle die wun¬ 
derbare, unerforschliche Herrlichkeit der himmlischen Schöpfung genügt Gott 
nicht; auf ein anderes, verborgenes Ziel hat er es abgesehen, nach einem andern 
Tempel noch verlangt ihn. Und welcher ist dieser Tempel? Du selbst bist es, 
o Mensch! Deine Seele ist es, mit der Fähigkeit ausgerüstet, ihn zu erkennen, 
ihn zu lieben, mit der Bestimmung, alle jene sichtbare und unsichtbare Herrlich¬ 
keit ewig mit ihm zu teilen, ewig mit ihm zu beherrschen. Deshalb sprach er, 
nachdem der Geist Gottes auf den uranfänglichen Wassern sein Werk vollbracht 
hatte: „Lasset uns den Menschen machen nach unserm Bilde und zu unserm 
Gleichnisse." 4) Und er formte ihn aus Erde und hauchte ihm ins Antlitz seinen 
Hauch des Lebens. Nun war der wahre lebendige Tempel Gottes erbaut und 
eingeweiht, und der heilige Geist hatte Besitz von ihm genommen. Aber eben 
weil es ein lebendiger, geistiger Tempel, ein Tempel der Liebe sein sollte, da¬ 
rum ward die Behauptung dieser Würde und der damit verbundenen Seligkeit 
in die Freiheit des Menschen, in seine eigene Wahl gelegt. Er sollte die heilige 
Stätte, den Altar Gottes in sich hüten und das ununterbrochene Opfer kindlichen, 
liebenden Gehorsams darauf darbringen. Allein von dem neidischen Versucher 
verlockt, ließ er den Keim alles Bösen, die Selbstsucht, in sich Wurzel fassen, 
wollte nicht mehr Gottes Tempel, sondern selbst wie Gott sein; er sündigte, ver¬ 
trieb aus sich den heiligen Geist und fiel dem Tode und Verderben anheim; die 
sündhafte Wurzel der Selbstsucht, die er in seine Natur eingepflanzt, wucherte 
fort in seinen-Zeugungen, und entwickelte sich mit vergiftender Gewalt in seinen 
Nachkommen. Der irdische, fleischliche Sinn verdunkelte immer mehr das Licht 
1) Psalm 146, 4. 2) Baruch 3, 34; Jes. 40, 26. 3) Sprichw. 8, 27. 4) 1. Mos. 1, 26.
	        
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