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die Schulter, so wirst du sehen, wie er die Anfangsbuchstaben liebevoll 
bunt malt, sie mit zierlichen Linien umzieht und mit farbigen Gestalten 
schmückt. Muß er das? Wird dadurch das Geschriebene vielleicht lesbarer? 
Nein, gewiß nicht. So treibt es den Menschen, etwas zu bilden, wozu ihn 
nichts in der weiten Welt zwingt, was ihm frei aus der Seele kommt, 
was nur der Freude, dem Schmucke des Daseins dient, etwas zu gestalten, 
das dem Leben einen reicheren Inhalt verleiht und jedes edle Gefühl 
mächtig zu steigern vermag. Was er schafft, es ist ein kleines Kunstwerk, 
er selbst ist ein Künstler. 
Aber was ist's denn nun um das Wesen der Kunst? Was bedeutet 
Kunst? „Die Kunst ist Eine nur, die Kunst ist Poesie", so ruft uns der 
Dichter zu. Also eine Dichtung in stummen Formen will in einem Kunst¬ 
werk vor uns hintreten. 
Du kennst das weltberühmte steinerne Kunstwerk von Köln, den alten, 
herrlichen Dom?Z Zum Himmel ragt er empor, majestätisch und zugleich 
leicht, von aller Erdenschwere befreit, der massive Stein durchgeistigt und 
verklärt; zum Himmel streckt und reckt sich sein steiles Giebeldach, zu ihm 
streben und steigen seine kühnen, schlanken Türme. Eine Dichtung in 
stummen Formen! Himmelssehnsucht, träumerische Mystik, heilige Begeiste¬ 
rung hat sich im harten Steine verkörpert. Heiliges Heimweh atmen alle 
jene tausend spitzen, winzigen Türmchen und Giebelchen, die wie Finger, 
wie Gebetsarme emporweisen; von zarter Gottesminne flüstern die steinernen 
Blumen, welche auf luftiger Spitze dem Himmel entgegenblühen. — „Wie 
poesievoll!" rufst du aus. Ja, die Kunst ist Dichtung! 
„Die Kunst ist Darstellung des Schönen", so hört man wohl weiter 
sagen. Schön ist der Kölner Dom, —- schön, ergreifend schön die Sixtinische 
Madonna von Raffael?) Aber worin liegt hier das Geheimnis der 
Schönheit? 
Da schwebt sie auf den Wolken herab: vollendet jede Linie in ihrem 
Antlitz, vollkommen jede Form, vollkommen die ganze Gestalt. Aber dich 
bewegt noch etwas ganz anderes an diesem Frauenbild: der wunderbare 
Ausdruck. Sie naht auf den Wolken des Himmels als demutsvolle 
„Christophora"; ihr Beruf ist, daß sie Gottes Kind zur Erde bringe. Sie 
weiß sich der hohen Ehre nicht wert, siehst du das leise Zagen um ihren 
Mund? Sie kommt nicht als Königin des Himmels, denn traumhaft 
verschleiert geht ihr Blick in die Ferne, sie ist sich selbst ein Gnadenwunder, 
1) Vgl. Nr. 62: Die kirchliche Baukunst des Mittelalters. Abbildung in Lucken¬ 
bach, Kunst und Geschichte II. (Preis 1,80 M.). 
2) Vgl. das Meisterbild des Kunstwarts (Preis 0,25 M.). Raffael, geb. 1483 
zu Urbino, wirkte in Florenz und Rom. Seine Hauptwerke sind zahlreiche Madonnen¬ 
bilder und die Gemälde im Vatikan, ff 1520.
	        
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