Full text: Lesebuch für höhere Bildungsanstalten (4)

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liebsten Französisch; und würde schon bei einer Nothlüge in Verlegenheit kommen, 
wenn er diese nicht bei Zeiten lernte. Klar, wie des Deutschen Himmel, fest, wie 
sein Land, ursprünglich, wie seine Alpen, und stark, wie seine Ströme, bleibe seine 
Sprache! Sie lerne der Schriftsteller und Redner stimmen, wie der Tonkünstler 
das Werkzeug, auf dem er Wohllaut hervorzaubert. 
Es ist nicht willkürlich, welche Sprache das Kind zuerst lernt. Himmelstrich, 
Lust, Erde haben Einwirkung aus die Sprachwerkzeuge. 
Bedeutender müssen alle diese Einflüsse bei einem unvermischten, naturgemäß 
lebenden, von undenklicher Zeit her eingewohnlen Urvolke mit einer seit Jahr¬ 
tausenden gesprochenen Ursprache werden, wo früher eigene Selbstbildung das auf¬ 
faßte, was die Natur anfing, und es durch den Sprachgebrauch gesetzmäßig machte. 
Es ist mit Sprachen, wie mit der Baukunst. Aus der Felskluft des Höhlen- 
wohners ward die Pyramide, aus dem Wanderzelte Salomo's Tempel, aus der 
Griechen Hütte die Säulenordnung, aus der Deutschen Hainlaube Dom und 
Münster. 
Die Muttersprache muß gelehrt werden, nicht für das blose Wissen, sondern 
für Anwendung im Leben, auf fünffache Weise, als: Rechtsprechen, Rechtlesen, 
Rechtreden, Rechtschreiben und Gesang. Rechtsprechen und Recht lesen, 
wo jeder Sprachlaut vernehmlich sei nach seiner Gehühr; keine Lautverwech¬ 
selung von b und p, d und t (Sachsen), ch mit k (Leipzig), g mit j (Branden¬ 
burg), g und j mit ch (Göttingen), e statt a (Hannover), oa statt a (Mecklenburg); 
kein Zusammenziehen der Doppellaute; kein Schnarren; kein Zischen 
der Lispellaute st, sp und s. Daß man solche und noch andere eingewurzelte 
Unarten sich abgewöhnen kann, ist Demosthenes ein Beispiel. Nur die ersten 
Sprachmeister der Kinder, Mütter und deren Stellvertreterinnen, dürfen es nicht 
auf die leichte Achsel nehmen. Das ist ganz und gar nicht geziert, so wenig wie 
Reinlichkeit, die sich den Schmutz abwäscht. 
Rechtreden im Erzählen, Unterreden, Vortragen, Streitreden, Hersagen 
des Auswendiggelernten, Bestellen, Ausrichten, Bescheidgeben, Fragen. „Sprich, 
daß ich dich sehe!" verlangte Sokrates. Alle Staatsdiener und Beamte sollten 
billig fertige Rechtredner sein mit Anstand und Geschmack. Der Wohlredner 
Odysseus züchtigte nur den Schreihals Thersites. „Ein gutes Wort findet eine 
gute Statt!" Das redeferligste Volk in Europa sind die Engländer und dadurch 
geschützt gegen ausländische Beschwatzung. Die Kartenspiele haben uns stumm 
gemacht, und was sich daraus reimt. Sie bringen Tröpfe mit guten Kleidern und 
gutem Gelde in Gesellschaften, wo, wenn die Rede noch Werth hätte, diese Aus¬ 
schuß blieben. Einst kaufte ein armer Sünder, der auck, einmal den Mund gern 
zu etwas Anderem, als „ich passe" aufthun wollte, einen berühmten Erzähler 
eine hübsche Geschichte ab mit dem Beding, daß der Verkäufer sie nie wieder¬ 
erzählen sollte. Das ging so lange gut, als Beide sich in einer Gesellschaft trafen, 
wo der Einhändler den gekauften Witz äußerst erbärmlich machte, und der alte 
Erzähler aufsprang und sagte: „Hier haben Sie Ihr Geld wieder, lassen Sie mir 
meine Geschichte!" 
Rechtschreiben. Bürger klagt noch, daß „aus der ganzen Literärgeschichte 
kein aufgeklärt schreibendes Volk bekannt sei, welches im Ganzen so schlecht mit 
seiner Sprache umgegangen, welches so nachlässig, so unbekümmert um Richtigkeit, 
Reinheit und Schönheit, ja, welches so — liederlich geschrieben habe, als bisher 
unser deutsches Volk" (in seiner „Anweisung zur deutschen Sprache und Schreib¬ 
art"). Was ist es anders, als die Wiederholung eines alten Vorwurfs, den uns 
schon Otfried im neunten Jahrhunderte machte? „Diese Sprache wird für bäuerisch 
Lebensbilder IV.
	        
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