Full text: Lesebuch für höhere Bildungsanstalten (4)

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aienien das Nöthige dem Baume zuführen. Und wann benutzt er Alles? Immer¬ 
fort! Da niacht Tag und Nacht, da macht Morgen und Abend, da macht Heller 
und trüber Himmel keinen Unterschied. Keine Stunde, kein Augenblick vergeht 
ohne fortwährende Sammlung des Bedürfnisses. Nein, eine emsigere Benutzung 
aller Stoffe, aller Gelegenheitsstoffe zur Bildung läßt sich nicht Lenken. — Außer 
vielleicht bei den Menschen? Nun, so antwortet euch selbst! Benutzt ihr die Gaben 
und Gelegenheiten, die euch Gott zu eurer Menschenbildung gegeben hat? Benutzt 
ihr sie alle rund herum? Benutzt ihr sie immer? Da hat uns Lee weise Gott 
so viel Unierrichtsmittel zur Seite gestellt, die uns Einsicht und Kenntniß, wie 
dem Baume das Sonnenlicht, zuführen sollen. Der läßt sie ganz seitwärts liegen, 
und der Andere benutzt sie nur, wann es beliebt. Ta hat er uns Aeltern, Lehrer, 
Freunde, Rathgeber zugesetzt, von denen wir lernen und das uns fehlende Schöne 
und Gute entnehmen, die uns so wohlthätig sein sollten, wie die Elemente der 
Luft, des Wassers und der Erde dem Baume sind. Leben wir gern in ihrem 
Elemente? Folgen wir ihren Warnungen? Ta hat er uns die heilige Religion 
Jesu gegeben, die das vertrocknete, matte Herz kräftigen und aufrichten soll, wenn 
ein schwüler Tag des Lebens ihm Saft und Stärke entzogen hat. Schöpft man 
aber aus dieser Quelle? Trinkt man immer ausdem Brunnen, aus welchem 
Wasser des ewigen Lebens quillt? Da sind es unsere Schicksale, welche uns mit 
Erfahrungen bereichern, mit Lebensregeln versehen sollen. Umsonst. Wir werden 
durch sie weder weiser noch besser, weder vorsichtiger noch entschlossener, weder 
ernster noch thätiger. 
Sehet den Unterschied! Das erleuchtende Sonnenlicht, wie gern nimmt es 
der Baum auf, wie neigt er alle seine Zweige so gern dem Lichte zu! Der 
Geist des Menschen aber wendet sich oft vom Lichte ab, er will die Finsterniß. 
Die milde, warme, erquickende Luft, wie saugen sie des Baumes Blätter ein! 
Das kalte Herz des Menschen will oft sich nicht einmal erwärmen. Das er¬ 
frischende Naß, der vom Himmel fallende Regen, wie füllt sich damit des Baumes 
Schale! Des Menschen Gemüth will oft lieber vertrocknen, als sich an der Quelle 
des Lebens stärken. Tie Fruchttheile der Erde, woraus der Baum steht, wie 
wissen sie die feinen Wurzeln an sich zu ziehen! Den Platz, woraus Gott jeden 
Menschen stellte, wie wenig benutzte ihn derselbe! Wie wenig das ihm dabei 
dargebotene Gute in seiner Lage und Stellung! Einer steht auf dem Platze der 
Welt als Hausvater; aber hausväterliche Fürsorge hat er sich nicht eigen gemacht. 
Er hat den Platz als Geschäftsmann; aber Thätigkeit und Umsicht hat er den 
Geschäften nicht abgelernt. Er hat den Platz als Reicher; aber von seinem Reich- 
thume hat er für sein geistiges Leben noch keine Vortheile gezogen. Er hat den 
Platz als Armer; aber die Armuth hat in seiner Uugenügsamkeit und in seinem 
Trotze nichts geändert. Alle Umgebungen, alle Verhältnisse bleiben obne Nutzen, 
ohne Gebrauch. 
So viel Beschämung! So viel schon in einem Punkte, der nicht der einzige 
ist. Tenn bindet sich der Baum nicht genau an Ordnung und Zeit? Als ob 
wir die Regelmäßigkeit selbst abgebildet sähen, erblicken wir sie an ihm. Nach¬ 
dem er im Winter geruht und die nöthigen Kräfte zum neuen Tagewerke gesam¬ 
melt hat, treibt er im Frühjahre zur gesetzten Zeit Knospen, Blüthen und Blätter. 
Je mehr die Jahreszeit vorrückt, kommt er auch mit seinem Werke weiter, bis 
endlich im Herbste seine Blätter welken und zur Erde fallen. Kurz, ist irgendwo 
Regel und zeitgemäße Ordnung, so ist sie hier. — Diese Ordnung, wo ist sie, 
Mensch, in deinem Wirken? Diese? Ich hätte fragen sollen: Wo ist nur einige 
Ordnung, wo eine Art von Regel? Sind es nicht größtenteils Andere, die
	        
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