Full text: Auswahl deutscher Dichtungen von dem Nibelungenliede bis zur Gegenwart (Abtheilung 1)

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Wohl sind's der Klagelieder g'nug, 
Genug der Poesien des Zornes, 
Doch einen neuen, vollen Zug 
Wog' aus dem Quell des Liederbornes; 
Dem trägen Heute laß den Lauf, 
Und laß sie ruhn, die gestern starben, Der eilt im Sturm dem Siege zu, 
Schon glühn am Morgenhimmel auf Zu dem wird jedes Herz sich neigen. 
Der Zutunft lebensfrische Farben. Und hat die Erde Fried' und Rub', 
Wird er herab zum Volke steigen; 
Der sei's, ihr Lieder, den ihr preist, 
Dem laßt der Hoffnung Chöre schallen, 
Und vor dem Gott, der ihn verheißt, 
Die Menschheit gläubig niederfallen. 
Und glaubt, es kommt ein Tag heran, 
Da sich ein Mann, ein Held bereitet, 
Der, mit dem Kleide angethan, 
Erlösend durch die Lande schreitet. 
Dortklingt's wie Frühlingswellenschlag, 
Dem starren Winterschlaf zu Leide, 
Dort weben Geister Nacht und Tag 
Der Zeit an einem neuen Kleide; 
Es rauschet wie ein kühn Gedicht 
Das frische Kleid von frischem Leben, 
Auf, Liederlust, und säume nicht, 
Auch deine Blüten drein zu weben. 
O hoher Preis und Ruhmesglanz, 
Den ihr in solchem Dienst ersungen! 
O unverwelklich schöner Kranz, 
Den ihr um solch ein Haupt geschlungen! 
Der Sänger stirbt, das Lied verschwebt; 
Und rasch verklingen die Gedichte; 
Doch ein unsterblich Leben lebt 
Ihr Geist im Strome der Geschichte! 
Und Freiheit heißt das neue Kleid, 
Und Recht und Liebe seine Saͤume; 
Die ihr verzagt und traurig seid, 
Seht's wallen durch des Himmels Räume, 
Friedrich Bodenstedt. 
(1819.) 
Ein Glick vom Kreml. 
Zum höchsten Thurm steig' ich hinauf Wo hoch sich ringsum vielbethürmt 
Des Kreml, in der Mosquastadt, Des Kremlin starke Mauer zog, 
Die manchen Thurm mit goldnem Knauf, Dran mancher Held schon angestürmt, 
Viel Tempel und Paläste hat. Schon mauches Haupt vom Rumpfe flog. 
Breit schlängelt sich die Mosqua darch 
Das buntverschlungne Häusermeer, 
Inmitten droht die Czaarenburg 
Hoch über Strom und Stadt einher. 
Und wie ich auf Palast und Dom 
Hinabsah von dem hohen Thuürm, 
Krümmt unten sich der Mosquastrom 
Zu meinen Füßen wie ein Wurm. 
Und wie ein Wurm in meinem Geist 
Nagt das Gedächtnis alter Zeit, 
Und vor mir schwebt und um mich kreist 
Manch Nachtbild der Vergangenheit. 
Den Häusern, Gärten, Straßen ist 
Der Größe Stempel aufgedrückt, 
Und wo der Blick den Raum durchmißt, 
Weilt er geblendet und entzückt. 
Roth in der Abendsonne Glut 
Ein ferner Zug von Hügeln glimmet: Die Glocke schlägt vom hohen Thurm, 
Ein lichter Rahmen, drin die Flut Daß alles ringsum bebt und dröhnt, 
Der Häusermassen weich verschwimmet. Als ob vom alten Kriegessturm 
Ein Nachhall aus dem Erze tönt — 
Als ob der Thurm mit Glockenmund 
In feierlichem Donnerlaut 
Erzählt, was ihm von Alters kund, 
Der Stadt, auf die er niederschaut.
	        
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