Full text: Prosalesebuch für Prima (Teil 7)

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I. Zur allgemeinen Kultur. 
reiche neue Religion eines frischen Lebens freuen, an dem wenigstens 
im Oriente das vierte Jahrhundert reich genug ist; aber es war 
ein neues Leben, und wie Köstliches war nun ab und tot. Ein jeder 
weiß, daß es nnn keinen freien Staat und keinen freien Mantt und 
keinen freien Gedanken mehr gibt. Der Absolutismus, der auf 
einem Stande von Berufsbeamten und einem der Nation entfrem¬ 
deten Heere ruht, tritt gleichzeitig rmt der analog organisierten Kirche 
die Herrschaft an. Mit der Einheit des Reiches ist die Einheit der 
Kultur preisgegeben; damit fällt der Okzident, der bisher immer von 
Osten befruchtet war, zunächst in Barbarei zurück, und als er nach 
taufend und mehr Jahren sich eine Kultur selbst errungen hat, ge¬ 
lingt es ihm doch nicht, bis heute nicht, die Kluft zu füllen, die ihn 
von dem mittlerweile barbarifierten Oriente scheidet. Minder augen¬ 
fällig als diese äußeren Gegensätze und in Wahrheit doch noch viel 
bezeichnender ist eine andere Veränderung, die trotz der zäh fest¬ 
gehaltenen Schrift die Trägerin aller Kultur, die Sprache, von 
Grund umgestaltet. Die Betonung wechselt, indem die Tonstärke 
statt der Tonhöhe eintritt und so die alte Unterscheidung von Länge 
und Kürze schwindet. Damit fallen die alten Kunstformen rn Poesie 
und Prosa, ja auch die Musik muß sich einen neuen Grund suchen. 
Wohl hat die Elastizität des hellenischen Geistes vermocht, ebenso wie 
sie die neue Krrchenlehre ausgestaltete, auch die akzentuierende Prosa 
und Poesie, den Reim und den Kirchengesang zu erschaffen und uns 
Okzidentalen noch zu übermitteln: aber das ist alles neu. Wenn 
die alten Götter tot waren, die Verse Homers und die Lieder 
Anakreons und die Rhythmen des Demosthenes nicht mehr klangen, 
so war's mit der alten Kultur zu Ende. Wer wollte das leugnen, 
so rätselhaft uns auch die Wandelung der Volksseele erscheinen mag, 
die alle diese Veränderungen allein hervorrufen konnte. Die Tat¬ 
sachen find da: nur, wer sie aus Trägheit oder Vorurteil ignoriert, 
kann bestreiten, daß die Weltgeschichte um 300 an einem der Wende¬ 
punkte des großen Weltenjahres gestanden hat, daß sich ein Ring 
an der Kette der Ewigkeit schloß, und wo äußerlich Kontinuität 
zu sein scheint, in Wahrheit nur ein neuer Ring sich mit dem vorigen 
berührt. 
Der Inhalt der um 300 abgeschlossenen Periode ist das so¬ 
genannte klassische Altertum, die Geschichte der Kultursphüre, welche 
der hellenische Geist zu durchdringen und zu beherrschen vermocht 
hat. Diese Geschichte beginnt anderthalb Jahrtausende früher, wo 
wir durch den Nebel trüber Überlieferungen wieder einen Wendepunkt 
der Weltgeschichte erkennen. Eine ungeheure Völkerbewegung macht 
den Anfang. Sie überflutet alle Länder um das Ägäische und Jonische
	        
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