Full text: [Abt. 8 = Für Prima] (Abt. 8 = Für Prima)

Riehl: Das Standesbewußtsein der Armut. 
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geschrieben, daß hier, auf der letzten Stufe des Elends, die Armen sich zu¬ 
sammengetan und die Faust erhoben hätten wider die Reichen. 
Noch am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts nannten sich die Bauern 
in verschiedenen Gegenden Deutschlands selber „arme Leute" und führten 
diesen Namen als einen ganz ehrbaren Titel, der ihnen in ihrer Über¬ 
zeugung ebenso notwendig und unabänderlich zukam, wie deu Glücklichereu 
die Bezeichnung Ritter und Herren. Der Neid des Besitzlosen gegen den 
Besitzenden mochte bestehen, aber er war nicht organisiert. Das Proletariat 
fühlte sich trotz seiner furchtbaren Ausdehnung durch keine gemeinsame Idee 
verknüpft. Dieses Gemeinbewnßtsein des Proletariats als eines vierten 
Standes ist, ich wiederhole es, erwacht in der Opposition gegen den Müßig- 
gang der Besitzenden, gegen die Selbstüberhebung des Reichtums, gegen den 
modernen Götzendienst des Mammons. In den Wäldern Nordamerikas 
mögen auch viele Tausende der elendesten Proletarier umherschweifen, den¬ 
noch wird man dort setzt noch ebensowenig von den Gefahren des Proletariats, 
von dem Pauperismus, von einem vierten Stande reden können wie ehedem 
in Deutschland. Erst da, wo die Armut sich reibt mit dem Übermut des 
Besitzes, wo der Arme, auf engem Raum mit dein Reichen zusammengedrängt, 
sich der sozialen Unterschiede klar bewußt wird, erst da erhebt sich das 
Gespenst des Pauperismus. Erst als das Licht der allgemeinen Bildung 
ans die Armut fiel, erkannte sie, wie gar arm sie sei. Der vierte Stand 
umschließt die zum sozialen Selbstbewußtsein erwachte Armut, und die 
Tatsache, daß die Armut vor hundert Jahren weit größer gewiesen ist als 
in dieser Stunde, wird nie wieder den einmal erwachten Neid des Armen 
gegen den Reichen wegtilgen können. Wäre der Pauker von Niklashausen, 
wäre Thomas Münzer mit seiner sozialen Predigt bei der Masse des Volkes 
durchgedrungen, so würden die Begriffe des Pauperismus und des vierten 
Standes nicht von heute datieren, sondern aus dem sechzehnten Jahrhundert. 
Der Bauernkrieg zeigte das erste Aufleuchten des Selbstbewußtseins der 
Armut, aber sein trauriger Ausgang bekundet zugleich, daß das Volk eben 
wegen seines fürchterlichen Elends nur erst eiue dämmernde Vorahnung 
dieses Bewußtseins gewonnen hatte. Kam doch der gelehrte Hesse Mutianus 
ans den sonderbaren Gedanken, der in unseren Tagen fast bei jedem ver¬ 
unglückten Aufstande von den Unterliegenden geltend genmcht worden ist, 
daß die reichsstädtischen Kaufleute und Juden, also „Bourgeois" und „Geld¬ 
säcke", den ganzen Bauernkrieg künstlich angezettelt hätten, um durch die 
Bauern die Fürsten zu stürzen und dann eine Art von venezianischer Kauf¬ 
mannsrepublik und Geldaristokratie in Deutschland einzuführen. 
Als im Jahre 1349 das „große Sterben" gekommen war und das 
Elend aufs äußerste überhandnahm, erfolgte nicht etwa ein Krawall, wie
	        
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