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Windelband: Platon.
das Priestertum des römischen Christentums zu den besitz- und ehelosen
„Wächtern" der „Politeia" darbietet, oder an die bedingungslose Unter¬
werfung auch dieser „Gehilfen" unter den Geist und Zweck des Ganzen —
es genügt schon das Merkmal des Glaubenszwanges und seiner Durch¬
führung im bürgerlichen Leben, um die tiefe Verwandtschaft der römisch-
katholischen Lebensordnung mit den sozial-politischen Idealen Platons zu¬
tage treten zu lassen. Die Herrschaft der Lehre — das ist das Entschei¬
dende in beiden. In diesem Sinne hat das mittelalterliche Gesellschafts¬
system des Abendlandes tatsächlich erfüllt, was Platon vorahnend verlangt
hatte, und die europäische Menschheit hat die Gefahren dieses Prinzips in
ihrer ganzen Größe und Ausdehnung bis auf den letzten Rest auskosten
müssen.
Allein noch tiefer greift Platons prophetische Bedeutung, und sie trifft
damit das Tiefste und Edelste seines Wirkens. Sein Gedanke der über¬
sinnlichen Welt, aus dem Griechentum geboren und vom Griechentum ver¬
schmäht, sollte das Lebensprinzip der Zukunft werden. Wenn aber der
Schwerpunkt des menschlichen Wollens aus der irdischen Welt in das Jen¬
seits verlegt wurde, wie es Platon mit aller Entschiedenheit verlangte, so
begann damit die größte „Umwertung aller Werte", welche unser Geschlecht
in seiner Entwicklung erfahren hat. Eine Entwertung der Erdengüter des
Besitzes und der Ehre und ebenso eine Entwertung der alltäglichen bürger¬
lichen Moral — das waren Folgerungen, die schon Platon zu ziehen kein
Bedenken trug. Bedeutsamer jedoch als diese negative, war die positive
Seite des Vorganges: das Ergreifen der Werte der Innerlichkeit, die Er¬
hebung des Heiles der unsterblichen Seele zum Mittelpunkte alles Wollens.
Damit öffnen sich die Quellen eines völlig neuen Lebens, und niemand hat
diese Verinnerlichung, die Vertiefung des Bewußtseins in sich selbst, der das
Altertum als seinem letzten und höchsten Kulturergebnis zustrebte, so ein¬
fach und großartig ausgesprochen wie Platon.
Wie ein befremdendes Wunder tritt dieser Gedanke aus Platons Lebens-
werk in die erdenfrohe Griechenwelt. Aber schon begannen — das gerade
hatte er ja gesehen und verstanden — schon begannen die Zeiten, in denen
mit der völligen Zersetzung des öffentlichen Lebens, mit dem Verlust der
politischen Selbständigkeit, mit dem Hereinbrechen des Elends eines durch
Gewalt und Verbrechen zusammengehaltenen Weltreichs auch dem Griechen
der Trank des Erdenlebens schal wurde. Schon wußte der „Weise" nichts
Besseres als aus dem Weltlauf sich auf sich selbst, auf die „Unerschütter-
lichkeit" seines inneren Bewußtseins, auf den Selbstgenuß und die Selbst¬
genügsamkeit seiner „Tugend" zurückzuziehen. Die Flucht aus der Sinnen¬
welt begann, ein sieberhaftes Sehnen ergriff die Völker, und über den