Full text: [Abt. 8 = Für Prima] (Abt. 8 = Für Prima)

Erdmann: Über Kollision von Pflichten. 
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wer aber aus Liebe zu ihm handelt, verletzt die Pflicht, d. h. kürzer aus¬ 
gedrückt: Pflichterfüllung ist Pflichtverletzung. Damit aber ist auch der 
Beweis geliefert für die Behauptung, daß Pflichtkollisionen aus der Natur 
der Pflicht folgen; denn daraus, das; die Pflichterfüllung die Pflicht ver¬ 
letzt, schließen wir, daß jede Pflichterfüllung es tue mit derselben Sicherheit, 
mit der aus der Sterblichkeit des Menschen es folgt, daß jeder Mensch 
sterben wird. Es sind also nicht nur die verzerrten Verhältnisse der Gegen¬ 
wart, welche die Pflichten verwirren. Wir könnten dem einfachen para¬ 
diesischen Zustande viel näher stehen, wir brauchten noch nicht verpflichtet 
zu sein, auf der Straße zu grüßen, noch nicht genötigt, uns über die Be¬ 
kanntschaft mit Hinz oder Kunz unendlich zu freuen, noch nicht gezwungen, 
jedes Klavierspiel zu bewundern, es brauchte uoch gar keine Tollhäusler zu 
geben, die mit blanken Degen umherlaufen, und die Frauen brauchten noch 
nicht so nervenschwach zu sein, daß eine traurige Nachricht sie tötet: alles 
dieses könnte ganz anders sein, und doch, sobald es nur Pflichten gäbe, 
gäbe es auch Kollisionen unter ihnen. Auch dann würde, wer wohltätig 
ist, seine Kinder verkürzen, wer die Pflichten der Geselligkeit übte, die gegen 
die Armen hintansetzen, wer ein Vergehen strafte, das Gesetz der Milde 
übertreten. Kurz, immer steigernd haben wir zuerst nur die Möglichkeit, 
daun die Wirklichkeit der Pflichtenkollision, endlich sogar ihre Notwendigkeit 
behauptet, so daß, wo es überhaupt Pflichten gibt, sie gar nicht ausbleiben 
kann, und zwar nicht, weil wir dies selbst verschuldet haben oder die Schuld 
unserer Väter tragen, sondern weil der Boden, auf welchem Pflichten 
wachsen, dem des Urwalds gleicht, dessen sich kreuzende Schlingpflanzen jeden 
verstricken, der hineingerät. 
Die Lage des Menschen, der sich im Streite der Pflichten abquält, ist 
zu sehr der des Jxion ähnlich, als daß nicht die Frage entstehen sollte: 
„Gibt es da keine Hilfe?" Solange man über Kollision von Pflichten 
nachdenkt, hat man daher auch jene Fragen sich aufgeworfen, ja, nur um 
sie zu beantworten, die ganze Untersuchung über jene angestellt. Ein Aus¬ 
kunftsmittel hat viel Beifall gefunden und flndet ihn noch: „Muß einmal 
eine Pflicht verletzt werden, so erwäge man, wo am wenigsten Schaden an¬ 
gerichtet wird, und fasse danach seinen Entschluß." So wohlmeinend dieser 
Rat ist, so erinnert er doch etwas an jenes, gewiß auch in guter Absicht 
gedichtete Lied von zwölf Strophen, zum Singen für den Dachdecker be¬ 
stimmt, wenn er das Unglück haben sollte, vom Turm zu fallen. Man 
versetze sich nur recht lebhaft in die Lage, die bei den Untersuchungen über 
streitende Pflichten das stehende Beispiel abgab: „Zwei Schiffbrüchige haben 
sich auf ein Brett gerettet, das nicht imstande ist, beide zu tragen, und die 
Pflichten der Selbsterhaltung und Menschenliebe sind im Streit." Nach jener
	        
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