Erdmann: Über Kollision von Pflichten.
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wer aber aus Liebe zu ihm handelt, verletzt die Pflicht, d. h. kürzer aus¬
gedrückt: Pflichterfüllung ist Pflichtverletzung. Damit aber ist auch der
Beweis geliefert für die Behauptung, daß Pflichtkollisionen aus der Natur
der Pflicht folgen; denn daraus, das; die Pflichterfüllung die Pflicht ver¬
letzt, schließen wir, daß jede Pflichterfüllung es tue mit derselben Sicherheit,
mit der aus der Sterblichkeit des Menschen es folgt, daß jeder Mensch
sterben wird. Es sind also nicht nur die verzerrten Verhältnisse der Gegen¬
wart, welche die Pflichten verwirren. Wir könnten dem einfachen para¬
diesischen Zustande viel näher stehen, wir brauchten noch nicht verpflichtet
zu sein, auf der Straße zu grüßen, noch nicht genötigt, uns über die Be¬
kanntschaft mit Hinz oder Kunz unendlich zu freuen, noch nicht gezwungen,
jedes Klavierspiel zu bewundern, es brauchte uoch gar keine Tollhäusler zu
geben, die mit blanken Degen umherlaufen, und die Frauen brauchten noch
nicht so nervenschwach zu sein, daß eine traurige Nachricht sie tötet: alles
dieses könnte ganz anders sein, und doch, sobald es nur Pflichten gäbe,
gäbe es auch Kollisionen unter ihnen. Auch dann würde, wer wohltätig
ist, seine Kinder verkürzen, wer die Pflichten der Geselligkeit übte, die gegen
die Armen hintansetzen, wer ein Vergehen strafte, das Gesetz der Milde
übertreten. Kurz, immer steigernd haben wir zuerst nur die Möglichkeit,
daun die Wirklichkeit der Pflichtenkollision, endlich sogar ihre Notwendigkeit
behauptet, so daß, wo es überhaupt Pflichten gibt, sie gar nicht ausbleiben
kann, und zwar nicht, weil wir dies selbst verschuldet haben oder die Schuld
unserer Väter tragen, sondern weil der Boden, auf welchem Pflichten
wachsen, dem des Urwalds gleicht, dessen sich kreuzende Schlingpflanzen jeden
verstricken, der hineingerät.
Die Lage des Menschen, der sich im Streite der Pflichten abquält, ist
zu sehr der des Jxion ähnlich, als daß nicht die Frage entstehen sollte:
„Gibt es da keine Hilfe?" Solange man über Kollision von Pflichten
nachdenkt, hat man daher auch jene Fragen sich aufgeworfen, ja, nur um
sie zu beantworten, die ganze Untersuchung über jene angestellt. Ein Aus¬
kunftsmittel hat viel Beifall gefunden und flndet ihn noch: „Muß einmal
eine Pflicht verletzt werden, so erwäge man, wo am wenigsten Schaden an¬
gerichtet wird, und fasse danach seinen Entschluß." So wohlmeinend dieser
Rat ist, so erinnert er doch etwas an jenes, gewiß auch in guter Absicht
gedichtete Lied von zwölf Strophen, zum Singen für den Dachdecker be¬
stimmt, wenn er das Unglück haben sollte, vom Turm zu fallen. Man
versetze sich nur recht lebhaft in die Lage, die bei den Untersuchungen über
streitende Pflichten das stehende Beispiel abgab: „Zwei Schiffbrüchige haben
sich auf ein Brett gerettet, das nicht imstande ist, beide zu tragen, und die
Pflichten der Selbsterhaltung und Menschenliebe sind im Streit." Nach jener