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Die schwarze Nacht hat ihn umfangen,
als er vom Herrn hinausgegangen —
da ahnt Otfricd sehr wohl den geheimnisvollen Znsammenhang zwischen
der Menschensecle und der Natur, die beide von Nacht umfangen sind,
denn er fugt hinzu:
Vom Licht und seinem Frieden
bleibt er nun ewiglich geschieden.
Doch natürlich kann es sich der Dichter auch nicht versagen, den
Kampf darzustellen, mit dem der König aller Ewigkeit den großen Riesen,
den stolzen Fürsten dieser Welt, den grimmen Unhold, bezwungen und
in Ketten fest geschlossen hat.
Oft verwässert Otfried die erhabene Knappheit und tiefe Gewalt
des Evangelienberichtes .... Wirkungsvoll dagegen ist die Schilderung
der Teilnahme der Natur am letzten Leiden Christi: wie die Sonne ob
der Tat zürnt, der Welt den Segensstrahl verbirgt und so im Trauer¬
schleier das schöne Angesicht verhüllt. Bedeutend wirkt auch die Himmel¬
fahrt an all den Sternbildern vorüber, die unter den Füßen des sich
aufwärts Hebenden entweichen:
Wie schwebt er hoch, wie wallt er ferm,
ein still in Tag verglühter Stern,
bis eine Wolke ihn umwunden,
und nun ist seine Spur verschwunden.
Tiefe Innigkeit verraten oft die Gebete und Reden, die dem Charakter
des Sprechenden sich anpassen. Doch nur zu oft drängen sich Gelehr¬
samkeit und Redseligkeit störend auf, und die Breite und Unbeholfenheit
des Ausdrucks tritt naturgemäß in der Urschrift noch mehr hervor als
in der geglätteten Übersetzung.
Vergleichen wir den Heliand und das Evangelienbuch Otfrieds, so
haben wir den Unterschied zwischen naiver Volksdichtung und gelehrter
Kunstdichtung; Otfried ist als Persönlichkeit der Bedeutendere, aber seine
dichterische Begabung wird von der Gelehrsamkeit erstickt. An die Stelle
des Epos tritt die moralisierende Predigt.
52. Spielmannspoeste.
Die Schulen der Klöster waren im 9. Jahrhundert die Heimstätte
für literarisches Schaffen, aber der berufsmäßige deutsche Dichter des
9. und 10. Jahrhunderts wohnte nicht im Kloster, er wohnte überhaupt
nicht, er war ein unstäter Sänger, der von Ort zu Ort ziehend sein