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Aber nicht bloß mit chemischen Mitteln wehrt sich der Körper gegen
seine Feinde, er schickt auch einen Teil seiner Zellen gegen sie aus.
Betrachtet man ein winziges Tröpfchen Blut unter dem Mikroskop, so
sieht man in einer nahezu farblosen Flüssigkeit zahllose runde gelbe
Scheibchen schwimmen, die roten Blutkörperchen, deren Masse das Blut
seine Farbe verdankt. In einem Kubikmillimeter sind 4,5 bis 5 Millionen
solcher Scheibchen enthalten. Daneben gewahrt man hier und da einzelne
ganz ungefärbte, weniger runde und etwas gekörnte Zellen, die sog.
weißen Blutkörperchen oder Leukocyten. Hiervon gibt es in einem Kubik—
millimeter nur etwa 8—9000. Diese weißen Blutkörperchen entwickeln
nun im Organismus eine sehr merkwürdige Tätigkeit. Sie vermögen
nämlich unter gewissen Bedingungen Bakterien in sich aufzunehmen und
sozusagen zu verdauen, jedenfalls unschädlich zu machen. So stellen sie
eine Ärt Sanitätspolizei im Körper dar. Sind irgendwo Krankheits—
erreger eingedrungen, so versammeln sich die weißen Blutkörperchen hier
in großer Anzahl und beginnen ihren Feldzug gegen die Eindringlinge.
Voraussetzung dabei ist aber, daß im Blut bestimmte Stoffe vorhanden
sind, die ihnen die Bakterien gewissermaßen präparieren, sie sozusagen
für die weißen Blutkörperchen verdaulich machen. Diese Substanzen
spielen also den weißen Blutkörperchen gegenüber dieselbe Rolle, wie der
Ambozeptor gegenüber dem Komplement. Man nennt diese die Freßlust
der weißen Blutkörperchen steigernden Stoffe neuerdings Opsonine und
hat sie bereits zur Heilung von Krankheiten heranzuziehen versucht. Das
geht nun natürlich nicht so einfach, wie man aus der Apotheke eine
Arznei holt; ist doch die einzige chemische Fabrik, die sie anfertigen kann,
der lebende Körper selbst. Aber man kann den Körper zur Vermehrung
seiner Opsonine anregen, indem man ihm kleine Mengen abgetöteter
Bakterien derselben Art zuführt, durch die er bereits krank ist, also bei
Tuberkulose Tuberkelbazillen usv. Damit steigert man dann die Kampf—
fähigkeit der weißen Blutzellen. Natürlich muß das sehr vorsichtig ge—
schehen und sorgfältig im Laboratorium kontrolliert werden.
Alle diese wunderbaren Stoffe werden irgendwo im Körper ange—
fertigt. Wo, wissen wir nicht. Aber sie kreisen im Blut und gelangen
auf diesem Weg an die Orte, wo sie nötig sind. Dargestellt und gesehen
hat sie noch niemand, ihre chemische Zusammensetzung ist uns vollkommen
unbekannt, wird es vielleicht auch für immer bleiben, wir kennen sie
eben nur aus ihren biologischen Wirkungen. Mehr denn je erscheint
uns das Wort wahr: „Blut ist ein ganz besonderer Saft.“
Stehen wir aber auch erst am Anfang unserer Kenntnis dieser
wunderbaren Heilbestrebungen der Natur, und ist unser Wissen noch
sehr Stückwerk, so ist doch eins sicher: die Wissenschaft wird nicht ruhen,
bis sie der Natur ihr Geheimnis abgelauscht und es in den Dienst der
kranken Menschheit gestellt hat.