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behauptet ist, verdankt Shakespeare diesen Erfolg; denn seine Gestalten
sind keine Ausgeburten des überlegenden Verstandes, sondern Erzeugnisse
einer leidenschaftlich erregten Energie, einer staunenswerten Vielseitigkeit,
die sich durch die Phantasie in alles Menschliche hineinzuleben weiß.
Freilich auch seine Menschen haben gemeinsame Züge, die sie als Kinder
desselben Vaters answeisen, und wenn die Familienähnlichkeit nur darin
bestände, daß sie alle, selbst seine Dummköpfe, geistreich sind. Wie Gott,
so schafft auch der Dichter die Menschen nach seinem Bilde. Selbst der
größte schöpferische Genius vermag nie mehr als das wiederzugeben,
was er in sich trägt, und mit seinem Geist das zu beleben, was er um
sich sieht.
Hinter den Gestalten der „Iphigenie" und des „Tasso" erkennen
wir Goethe und seinen Kreis, Karl August, Charlotte von Stein, Corona
Schröter, eine Gesellschaft edel und rein empfindender Menschen. Die
Personen des Dramas haben die Aufgabe, sich in ihrem Fühlen und
Denken dem vornehmen Kreis anzupassen. Die auf das Materielle
gerichteten Wünsche müssen unterdrückt werden, um einem Leben inner¬
halb des Schönen und Guten zu genügen. Bei Racine wallt der Strom
etwas weiter. Wir befinden uns am Hof eines gewaltigen Fürsten;
tapfere Feldherren und weise Staatsmänner stehen ihm zu Seite, aber
in der Tragödie legen sie Panzer und Toga ab und erscheinen nur in
dem höfischen Prachtgewand, um sich der Galanterie zu überlassen. Der
Hofton beherrscht das Drama: man spricht und benimmt sich so, wie man
vor den Angen des Monarchen und der schönsten Herzoginnen dastehen
möchte. Die Leidenschaften müssen sich dem Anstand und dem Zeremo¬
niell unterordnen. Cnlderons Welt ist freier; hier wird gekämpft und
gerungen, hier brechen die natürlichen Triebe hervor, aber sie werden
gebändigt durch den unerbittlichen Zwang des Ehrgesetzes, durch die
Heiligkeit der Kirche und der irdischen Majestät. Das deutsche, franzö¬
sische und spanische Schauspiel zeigt den Menschen innerhalb bestimmter
durch die Kultur gezogener Schranken, die er für sein Denken und
Handeln als maßgebend anerkennt. An ihnen bricht sich der Wille des
Individuums. Die Shakespearische Welt bewegt sich nicht in so engen
Grenzen, und dementsprechend kennt auch Shakespeares Drama solche
Rücksichten nicht. Hier erscheint der Mensch in seiner innersten Natur,
wild, grausam, roh, egoistisch, der entsetzlichsten Schandtaten fähig, aber
auch im Moment des Impulses bereit die größten Opfer zu bringen.
Daraus folgt, daß Shakespeare überhaupt keine Helden hat, die für ein
Ideal kämpfen und fallen; der Wille des natürlichen Menschen beschränkt
sich auf irdische Güter. Der spanische Glaubensstreiter ist ihm so fremd
wie ein Faust, den der Wissensdrang über die Grenzen des Irdischen
hinausführt. Die Gestalten des englischen Dichters gehören ganz der