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Zuerst, wie kommen wir zu ihrer Vorstellung? Offenbar auf
demselben Wege: durch Wahrnehmung oder wenigstens nicht ohne
Wahrnehmung. Ohne Gesichtsinn und Tastsinn würde von Ausdehnung
und Solidität so wenig die Rede sein wie ohne Gehör von Tönen.
Fingieren wir einen Menschen, dem außer dem Gesichtsinu auch die
Tast- und Bewegungsempfindnng von Ansang an völlig fehlte, der nie
die Bewegung der eigenen Glieder und ihre Hemmung durch die Um¬
gebung gefühlt hätte, so würde es ebenso unmöglich sein, ihm deutlich zu
machen, was ein Körper, wie einem Blinden, was rot oder blau sei. Er
könnte dabei Empfindungen haben, z. B. Ton-, Geschmacks- und
Geruchscmpfindnngen; er könnte sie auch irgendwie zu zeitlich zusammen¬
hängenden Gruppen und Reihen ordnen; aber Raum und Körper würde
es für ihn nicht geben. Also Körperlichkeit ist Wahrnehmungsinhalt.
Sodann gilt auch hier, ebenso wie bei den sekundären Qualitäten:
die Wahrnehmung entnimmt nicht ihren Inhalt passiv aus der Außen¬
welt, sie bringt ihn vielmehr spontan hervor. Die gewöhnliche Meinung
wird geneigt sein die Sache so anzusehen: die Ausdehnung wird
unmittelbar rezipiert, das Auge nimmt flächenhafte Bilder der ausge¬
dehnten Körper auf, die allgemeine Ranmanschanung aber wird durch
Abstraktion von den ausdehnten Wahrnehmungsbildern gewonnen.
Einige Besinnung an der Hand der Physiologie zeigt das Irrige
dieser Vorstellung. Auf der Netzhaut wird allerdings ein ausgedehntes
Bild des Gegenstandes entworfen, aber dieses Bild ist nicht die Wahr¬
nehmung. Eine solche kommt erst zustande, wenn die Erregungen, welche
die Lichtstrahlen in den Endorganen des Sehnerven in der Netzhaut
bewirken, durch die Fasern dieses Nerven zum Gehirn geleitet werden.
Was aber zum Gehirn geleitet wird, das ist natürlich nicht das Netz¬
hautbild; weder ist dies Bild ablösbar, noch können die Nervenfasern
Bilder transportieren. Und selbst wenn das Bild abgelöst und stückweise
durch die einzelnen Fasern des Sehnerven, wie durch Rohrpostleitung,
ins Gehirn übertragen und hier wieder zusammengesetzt werden könnte,
so wäre damit noch nichts gewonnen, denn im Gehirn ist es finster.
Und wenn Licht hineingebracht würde, so wäre die Sache noch vergeblich:
nun wäre wieder ein Auge notwendig, das Bild aufzufassen, und ein
Gehirn, es aufzunehmen. Also das ausgedehnte Bild wird auf jeden
Fall, es mag mit der Ausdehnung in der Außenwelt stehen, wie es will,
nicht aus der Außenwelt ausgenommen, sondern bei Gelegenheit irgend
einer Erregung neu hervorgebracht, ganz ebenso wie Ton und Farbe.
Und nicht anders steht cs mit den Eindrücken des Tastsinnes; auch durch
die Tastnerven können nicht fertige, ausgedehnte Kopien der Körper ins
Bewußtsein befördert werden. Lotze hat in der „Medizinischen Psycho¬
logie" diese Dinge höchst überzeugend dargelegt; nicht ausgedehnte