Aröeit und Muße. 
22. März 1875. 
Ernst Curtius, Altertum und Gegenwart. Gesammelte Reden und 
Vorträge. I. Band. Berlin, Wilhelm Hertz. 
Arbeit und Muße bilden den Gegensatz, der das Leben beherrscht. 
Er ist durch kein Naturgesetz geregelt, wie Ebbe und Flut oder wie 
das Ein- und Ausatmen der Brust, sondern dem Willen anheim ge¬ 
geben. Darauf beruht seine Bedeutung für das sittliche Leben; deshalb 
beurteilen wir die Bildung eines Menschen darnach, wie er seine Muße 
genießt, und die richtige Teilung zwischen Arbeit und Muße bleibt 
eine der höchsten Aufgaben der Lebenskunst, welche man nie zu Ende 
lernt. Da wir nun heute nach des Winters Arbeit in schöner Muße 
vereinigt sind, den Festtag zu feiern, dem wir durch eine wissenschaftliche 
Betrachtung die unserm Beruf entsprechende Weihe zu geben suchen, so 
gestatten Sie mir, Ihre Aufmerksamkeit darauf zu lenken, welche Stelle 
die Muße im Menschenleben einnimmt, und wie sich in der Auffassung 
derselben die Böller und Zeiten unterscheiden. 
Wenn wir die Wörter: Muße, müßig und Müßiggang zu¬ 
sammenstellen, bemerken wir schon, wie zarter Natur der Begriff ist, 
um den es sich handelt. Er hat auch eine merkwürdige Geschichte. 
Denn dem Gymnasiasten, der an einem heißen Sommertage seinen 
Schuldienst antritt, will es schwer einleuchten, daß sollola „Muße" 
bedeute. 
Uns Pffegt die Muße inmitten der Arbeit als eine erquickende Pause 
zu erscheinen; den Griechen erschien sie als der normale Zustand, und 
sie hatten für den Begriff des Geschäfts nur den Ausdruck Ascholia 
d. h. Unmuße. Ebenso verhält es sich mit dem otium und negotium. 
Wollten wir also unsere akademischen Verhältnisse nach dem Vorbilde 
der klassischen Völker betrachten, so könnten wir die Semester nur als 
Unterbrechung der Ferien ansehen. 
Im allgemeinen kann man sagen, daß Völker und Länder sich 
darnach unterscheiden, ob sie die Arbeit auf Kosten der Muße oder 
M. Henschke, Deutsche Prosa. 1
	        
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