Arbeit und Muße. 
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Tagesfragen, die heute alle Welt aufregen und morgen verklungen sind, 
fern vom verwirrenden Treiben der Partei, dem Ewigen und unbedingt 
Gültigen unverwandt zugewendet, um mit gesammelter Kraft die mensch¬ 
liche Erkenntnis zu erweitern. 
Aber die geistige Erwerbslust ist ziellos wie die weltliche, und 
je mehr sich die Forschung über den Stoff erhebt und den Gesetzen 
nachgeht, welche allen Erscheinungen zu Grunde liegen, um so rastloser 
zieht sie den Menschen mit sich fort. Darum ist der scheinbar Freiste 
der am meisten Gebundene, und der in Muße Schwelgende entbehrt 
ihrer am meisten; denn seine Arbeit hat keinen natürlichen Ruhepunkt, 
sein Tagewerk keinen Feierabend. Wenn die müde Welt ausruht, 
bleiben seine Gedanken in voller Anspannung, und ein ungelöstes 
Problem erhält ihn Tag und Nacht in Aufregung. 
Das Leben des Forschers ist von den Hellenen als das des 
Menschen würdigste, reinste und erhabenste anerkannt worden. „Glück¬ 
selig der Mann," sagt Enripides in den Worten, welche von den 
Athenern auf Anaxagoras bezogen wurden, „glückselig der Mann, so 
der Forschung Gebiet durchwandelt und nicht an dem verderblichen 
Zwist teil hat, der nie Unrechtes gewollt. Sein Blick schaut still in 
der ew'gen Natur nie alternde Ordnung; er Prüft, wie sie ward und 
wodurch sie entstand. In solchem Gemüt kann nimmer der Keim 
unlauterer Thaten entsprießen." 
Dennoch hat sich bei den Hellenen erst später ein besonderer Stand 
ausgebildet, dessen Geschäft in der Muße liegt, und als er sich bildete, 
traten sofort mancherlei Gefahren und Übelstände zu Tage. 
Die Sophisten waren die ersten, welche vom Wissen Profession 
machten und dadurch den Grundsatz der Hellenen verleugneten, welche 
jede einseitige Virtuosität für eine Mißbildung hielten. Sie trennten 
sich zugleich vom Gemeindeleben; sie suchten sich über jede örtliche Be¬ 
schränktheit zu erheben, von jeder Überlieferung frei zu machen, alles 
nach theoretischen Gesichtspunkten zurecht zu legen und zu reformieren. 
Wer leugnet, daß sie eine Fülle fruchtbarer Keime der Erkenntnis an 
das Licht gefördert haben! Aber die schöne Harmonie, die Unmittelbar¬ 
keit und frohe Sicherheit des antiken Lebens, woraus die Kunstschöpfungen 
der klassischen Zeit hervorgegangen sind, war dahin, und während die 
großen Philosophen, Sokrates, Platon, Aristoteles, alles daran setzten, 
mit dem Volksbewußtsein in Einklang zu bleiben, indem sie den Inhalt 
desselben klärten, vertieften und vielseitig verwerteten, machte die Sophistik 
einen Riß, welcher niemals geheilt worden ist. 
Die großen Weisen von Hellas nannten ihre Wissenschaft nur 
„Liebe zur Weisheit", weil sie ganz aus dem unwiderstehlichen Drange 
nach Erkenntnis hervorgegangen war und keinerlei äußeren Zweck hatte.
	        
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