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Ernst Curtins. 
Was sie gefunden, sollte kein Standesbesitz sein; sie teilten es mit, wie 
die Sonne ihr Licht ausströmt, die empfänglichen Geister erhellend und 
erwärmend. Von den Sophisten wurde die Wissenschaft, welche sich 
als ein Zweig am Stamme des Volkslebens bescheiden und still ent¬ 
wickelt hatte, zu einem Ziergewächs gemacht, welches der Eitelkeit diente, 
und als eine Nutzpflanze gezogen, um Ehre, Geld und Einfluß zu er¬ 
langen. Tugend und Weisheit wurde in Lehrkursen für so und so 
viel Minen feilgeboten. 
Der gewerbsmäßige Betrieb der Wissenschaft war eine Umkehr 
der normalen Verhältnisse, und sie rächte sich an dem Stande selbst, 
der die Muße zum Geschäfte und das Wissen zu einer Erwerbsquelle 
gemacht hatte. Die talentvollsten Sophisten haben nur vorübergehenden 
Glanz gewonnen, und wir kennen sie nur aus dem, was die Vertreter 
der volkstümlichen Weisheit gegen sie gesagt haben. 
Während aber die Gründer der Sophistik, die Zeitgenossen des 
Perikles, an der gewaltigen Bewegung der Zeit ihren vollen Anteil 
hatten und zum Teil eine schöpferische Geisteskraft zeigten, wurden die 
Nachzügler immer kümmerlicher und ärmer. Die aus der Isolierung 
hervorgehende Einseitigkeit wurde immer größer; die Wissenschaft ohne 
lebendigen Inhalt artete in einen trocknen Formalismus aus, in eine 
pedantische Schulweisheit, welche die Menschen lächerlich machte, die 
darin ihre Lebensaufgabe suchten und sie mit anspruchsvollem Dünkel 
vortrugen. Daher der üble Klang des Worts „Scholastikos", d. h. 
des ganz der Muße Lebenden, der ältesten Benennung eines Gelehrten 
von Fach, mit welcher man schon im Anfang der Kaiserzeit einen ver¬ 
knöcherten Pedanten bezeichnete, und wir erinnern uns alle der köst¬ 
lichen Scholastikosgeschichten, welche uns ans der Schulbank die Elemente 
des Griechischen versüßten. 
Die Lehre, welche aus diesen Betrachtungen folgt, ist eine wohl 
zu beherzigende, die uns nicht immer klar vor Augen steht. Sie lautet, 
daß die wahre Wissenschaft an keinen Gelehrtenstand gebunden ist, daß 
volle Gelehrtenmuße eine gefährliche Mitgift ist, und unser Lebensberuf 
mancherlei Entartungen ausgesetzt ist, wie das Beispiel der ersten 
Professoren, der Sophisten, und ihrer Nachfolger zeigt. 
Wir werden in unserer Art zu denken und zu wirken immer 
zwischen den Sophisten und Philosophen der Hellenen unsern Stand¬ 
punkt zu nehmen haben. Entweder ist das Erkennen unser alleiniges 
Ziel oder ein Mittel zum Zweck, indem das Streben nach Erkenntnis 
von allerlei Nebenrücksichten auf äußere Vorteile allmählich so über¬ 
wuchert wird, daß unter diesen Schlinggewächsen der edle Baum ab¬ 
stirbt. Entweder lösen wir uns vom Volke, dem wir angehören, und 
wollen etwas Besonderes sein, eine bevorzugte Kaste, welche auf die
	        
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