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Johann Gottfried Herder. 
zwanzig Jahre spater als wohl- oder übelgemeinte Fieber-Phantasieen 
lesen; reifere Gemüter lesen sie jetzt schon also. 
Also bleibt die Geschichte einzig und ewig nichts, als der Geist 
ihres ältesten Schreibers, Herodots, der unangestrengte, milde Sinn 
der Menschheit. Unbefangen sieht dieser alle Völker und zeichnet 
jedes auf seiner Stelle, nach seinen Sitten und Gebräuchen. Un¬ 
befangen erzählt er die Begebenheiten, und bemerkt, wie allenthalben 
nur Mäßigung die Völker glücklich mache und jeder Übermut seine 
Nemesis hinter sich habe. Dies Maß der Nemesis, nach feineren 
oder größeren Verhältnissen angewandt, ist der einzige und ewige Ma߬ 
stab aller Menschengeschichte. 
„Was du nicht willst, das dir geschehe, das thue keinem andern"; 
die Rache kommt, ja sie ist da, bei jeder Verirrung, bei jedem Frevel. 
Alle Mißverhältnisse und Unbilligkeiten, jede stolze Anmaßung, jede 
feindselige Verhetzung, jede Treulosigkeit hat ihre Strafe mit oder hinter 
sich; je später, desto schrecklicher und ernster. Die Schuld der Väter 
häuft sich mit erschreckendem Gewicht auf Kinder und Enkel. Gott 
hat den Menschen nicht erlaubt, lasterhaft zu sein als unter dem harten 
Gesetz der Strafe. 
Wiederum belohnt sich auch in der Geschichte das kleinste Gute. 
Kein vernünftiges Wort, was je ein Weiser sprach, kein gutes Beispiel, 
kein Strahl auch in der dunkelsten Nacht war je verloren. Unbemerkt 
wirkte es fort und that Gutes. Kein Blut des Unschuldigen ward 
fruchtlos vergossen; jeder Seufzer des Unterdrückten stieg gen Himmel 
und fand zu seiner Zeit einen Helfer. Auch Thränen sind in der 
Saat der Zeit Samenkörner der glücklichsten Ernte. Das Menschen¬ 
geschlecht ist Ein Ganzes; wir arbeiten und dulden, säen und ernten 
für einander. 
Wie milde, wie sanft aufmunternd; aber auch wie ernst und zu¬ 
sammenhaltend ist dieser Geist der Menschengeschichte! Er läßt jedes 
Volk an Stelle und Ort: denn jedes hat seine Regel des Rechts, 
sein Maß der Glückseligkeit in sich. Er schonet alle und verzärtelt 
keines. Sündigen die Völker, so büßen sie; und büßen so lange und 
schwer, bis sie nicht mehr sündigen. Wollen sie nicht Kinder sein, so 
erzieht sie die Natur zu Sklaven. 
Keiner politischen Verfassung tritt dieser Geist der Geschichte in 
den Weg. Er wirft nicht das Haus dem Ruhigen über den Kopf 
zusammen, ehe ein anderes, besseres da ist; zeigt aber dem zu Sicheren 
mit freundlicher Hand Fehler und Mängel des Hauses, und führt mit 
stillem Fleiß Materialien herbei zur Nutzung des alten, oder zum Bau 
eines besseren. 
Nationalvorurteile tastet er nicht an: denn in ihnen als Hülsen
	        
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