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Charlotte Duncker.
sondern gläubig; es kann ihm geschehen, Unwürdiges zu verteidigen, dann
leiht er diesem die eigene Unschuld; aber nicht leicht wird er Würdiges
verkennen; oft sieht sein „kindlich Gemüt", was dem Verstände der
Verständigen entgeht. Lessings witzige Klage, daß er mehr bewundert
als gelesen werde, enthält eine nicht ganz ungerechte Charakteristik der
Enthusiasten; unsere klassischen und unklassischen Schriftsteller (mit Aus¬
nahme der Romandichter, welche mehr gelesen als bewundert werden),
unsere Musiker und bildenden Künstler würden Ursache haben, in Lessings
Klage einzustimmen, wenn sie mit seinem Scharfblick ihre Bewunderer
musterten. Gerade unter den eifrigen Enthusiasten sind wenige, welche
die Geduld haben, zu sehen und zu hören. Aber die Kunst ist ihnen
dennoch Dank schuldig; sie sind ihre Herolde, oft werden sie, ohne es
zu wollen, „Rufer im Streit". Der Enthusiast ist in Wahrheit nicht
streitsüchtig, er ist nicht rechthaberisch; denn nicht für seine eigene Meinung,
nicht für seine eigene Klugheit zieht er zu Felde, sondern für die ihm
über jedem Zweifel stehende Hoheit und Schönheit des Gegenstandes,
der ihn entzückt. Der Enthusiasmus ist auf allen Gebieten des menschlichen
Strebens zu finden, in der Kirche, in der Wissenschaft, in der Politik;
doch ist die Kunst, für deren Würdigung das Gefühl die letzte Instanz
ist, das dankbarste Feld für ihn, und er bemächtigt sich ihrer um
so sorgloser, als der Satz, daß man über den Geschmack nicht streiten
solle, ihn nicht anficht. Wo Enthusiasten verschiedener Lager ihre Ge¬
schosse gegen einander absenden, geht es zuweilen heiß her, aber es werden
doch keine Tote vom Kampfplatze getragen.
Mit seinem Feuer, mit seiner Hingebung und seiner kritiklosen
Selbstgewißheit ist der Enthusiasmus ein schönes Vorrecht der Jugend;
er ist die Mogenröte eines sonnenwarmen, nicht selten allerdings auch
eines stürmischen Tages. Wenn Anlage und Neigung zum Enthusias¬
mus die Klärung des Urteils, die Originalität der Auffassung hintan¬
halten, so entschädigen sie durch Befruchtung des Herzens und der
Phantasie; sie bereiten eine reichere Bildung vor als frühzeitiges Über¬
wiegen der Kritik; und nicht selten wird der jugendliche Enthusiast in
den Jahren der Reife ein Begeisterter. Ehemaligen Enthusiasten, welche
durch die Arbeit des Lebens ernüchtert worden sind, ist zu wünschen,
daß die Erinnerung an die übervolle Empfindung früherer Tage ihnen
nicht verloren gehe und ihnen, wenn sie ihnen auftaucht, kein ironisches,
sondern nur ein resigniertes Lächeln entlocke.
Was die Griechen mit Enthusiasmus, mit Gotterfülltsein bezeich¬
neten, ist in unserem Worte Begeisterung nahezu erhalten. Schon
unsere Altvorderen sahen, wie die Bezeichnung des Tacitus erkennen
läßt, die Weisheit ihrer Wahrsager und ihrer Rat kündenden Frauen
als unmittelbare Wirkung eines göttlichen Anhauchs an. Seitdem