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II. 12. Herder:
uis. So lange also die vorstehenden Muster noch Reiz genug hatten, um
Liebhaberei und Nacheiferung zu erwecken, wurden sie nachgeahmt und im
ersten Feuer der Nacheiferung sehr glücklich. Als der Nachahmungen zu
viel wurden, und selbst die glücklichen Nachahmungen schon verzagt machten,
war es allerdings ein stumpferer Stachel, sich hinter hundert Nachahmern,
vielleicht als der hundertunderste, bloß leidliche Nachahmer aufgestellt
zu sehen; man suchte sich also durch Originalität, d. i. durch Keckheit zu
unterscheiden. Die Kunst hatte keine neuen, zum Guten und Bessern
dringenden, lebendigen Zwecke, und gerade was den ersten Malern ge¬
holfen hatte, das Licht der Neuheit, schreckte jetzt ab oder verführte. Man
sah selbst das Schöne in seinen frappanten Zügen nicht mehr, weil man
es zu oft sah; die gesättigte Henne ging über die Körner weg und hackte
nach Farben. Es war nichts als Mangel des Bedürfnisses am guten
Geschmacke, wodurch der gute Geschmack verdarb und ein schlech¬
terer aufkam.
30 Die schöne lateinische und griechische Sprache waren als Werk¬
zeuge des Schönen in der Wissenschaft freilich viel; was sind aber Werkzeuge,
sobald sie selbst Zwecke werden? Wenn Bembo die venetianische Geschichte
römisch schreibt, die doch nicht römisch gedacht und geführt war; wenn der
Kardinal sich scheut, die Vulgata seiner Kirche zu lesen, um sich seinen Stil
nicht zu verderben, und seinen allerheiligsten Vater selbst als einen römischen
Grammatiker schreiben läßt, in dessen Qualität er doch nicht Briefe eines
solchen Inhalts schreiben konnte: so sieht man das Spiel, die Dispro¬
portion zwischen Zweck und Werkzeug, den phantastischen
Zwang. Und alles Spiel, aller Zwang, alle Phantasterei muß sich
bald selbst auflösen. Über solche schöne Nachahmung der Alten ohne
ihre Gedanken und Sitten war nun nichts möglich, als tote Ge-
lehrsanikeit, Buchstabenkram, Akrosticha und Anagramme, die
also auch alle folgten. Das siebzehnte Jahrhundert folgte aufs sechzehnte,
und noch unterliegt Italien, einem großen Teile nach, solchem Wüste. Die
Samenkörner des guten Geschmacks sind in ihm aufgeschüttet; sie können
also nicht Früchte tragen.
31 Der Verfall der Dichtkunst hat eben den Weg genommen. Da sie
ganz idealisch war und am Geiste der Zeitbedürfnisse und Zwecke
so wenig, als möglich, hing, so geriet ihr nächster Schritt immer ins
Land des Abenteuers und des Übertriebenen. Das Jahrhundert des wieder¬
erweckten griechischen Geschmacks, der doch überall auf Natur, Richtigkeit und
Wahrheit führte, konnte daher neben allen den hohen Amüsiern und vortreff¬
lichen Nachahmungen von elenden Petrarchisten wimmeln, ja die Nachahmer