Geschichte des Geschmacks.
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der Alten waren dies oft selbst; ein deutlicher Beweis, wie untief der da¬
malige Geschmack war, um die ganze Natur und Seele in allem
und für alles griechisch zu bilden. Ariost kam und bauete ein Zauber¬
schloß mit hundert Pforten in der Luft; denn einen Nationaltempel auf festem
Boden konnte er nicht bauen; was drüber ging, ward natürlich Fratze und
Märchen. Tasso ahmte im Lande der Phantasien kalt nach; Marino über¬
trieb — es konnte nicht anders werden. Ein englischer Kunstrichter meint,
man könne sich den Geschmack an nichts so leicht, als an italienischen, zumal
Liebes- und Schäsergedichten, verderben, und ich weiß nicht, ob er ganz un¬
recht habe? Die wirksamste und natürlichste Dichtungsart, das Trauerspiel, hat
daher in Italien nie Kräfte gewonnen; der Welsche schwebt mit seiner Musik,
mit seiner Kunst, und aus gewisse Art selbst mit seiner Dichtkunst in der
Luft, in einem Ideale, das ihn nie ans festen Boden kommen läßt. Der
Grund davon, daß er nicht weiter kommt, ist, weil er schon so weit
kam und nichts ihn dringet, etwas anderes zu werden.
So traurig dies auf der einen Seite scheint, so ist's auf der andern 32
wiederum ein gutes Werkzeug in den Händen des Schicksals. Eben,
weil die Italiener nur fanden, nur nachbildeten und nachahmten,
dies aber auf eine Weise thaten, wie es keiner thun konnte, so idealisierten
und imitierten sie, zwar nicht enge und tief genug für sich, aber gewisser¬
maßen für ganz Europa. Sie haben alle Nachbarn gebildet, und die
Samenkörner des Geschmacks über sie gestreuet; Ariost bildete Spenser,
die italienische Satire den Rabelais, die Novellen den Shakespeare; die
neue politische Philosophie der Italiener kam mit bittern Folgen zu¬
erst nach Frankreich und von da weiter. Karl der Fünfte und Franz der
Erste eiferten an Kunst und Geschmack niit Italien und unter einander.
Die Nachahmer der lateinischen Sprache keimten in allen Landen; Italien
sollte durch seine Lage und durch alle seine Schicksale eine Vorratsknmmer
der Materialien des guten Geschmacks für alle Welt werden, und
ist's geworden.
IV. Ein neues Zeitalter des Geschmacks kam unter Ludwig XIV. 33
wieder, auf das sich, mit Rücksicht auf die Verschiedenheit der Umstände, an¬
wenden läßt, was bisher bei andern Nationen ist bemerkt worden. Wie jene,
war es durch Genies lange vorbereitet worden; Rabelais und Montaigne
warteten auf keinen Ludwig; Corneille hatte Richelieu und die Akademie
gegen sich; selbst die stärksten Genies waren nicht von der Hofsekte: Pas¬
cal, Fenelon, Rousseau, Lafontaine; und Racine hätte es weniger
sein dürfen. Nicht also Genie, aber Geschmack konnte Ludwig wecken,
da er auf und hinter ein Zeitalter des Genies traf. Um ihn lebte Anstand,