Wesen der Schönheit.
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Das Vollkommene, dargestellt mit Freiheit, wird sogleich in das Schöne 7
verwandelt. Es wird aber mit Freiheit dargestellt, wenn die Natur des
Dinges mit seiner Technik zusammenstimmend erscheint; wenn es aussieht,
als wenn diese aus dem Dinge selbst freiwillig hervorgeflossen wäre. Man
kann das Bisherige auch kurz so ausdrücken: Vollkommen ist ein Gegenstand,
wenn alles Mannigfaltige an ihm zur Einheit seines Begriffs übereinstimmt;
schön ist er, wenn seine Vollkommenheit als Natur erscheint. Die Schönheit
wächst, wenn die Vollkonnnenheit zusammengesetzter wird, und die Natur da¬
bei nichts leidet; denn die Aufgabe der Freiheit wird mit der zunehmenden
Menge des Verbundenen schwieriger, und ihre glückliche Auflösung eben
darum überraschender.
Zweckmäßigkeit, Ordnung, Proportion, Vollkommenheit — Eigenschaften, 8
in denen man die Schönheit so lauge gefunden zu haben glaubte — haben
mit derselben ganz und gar nichts zu thun. Wo aber Ordnung, Proportion
u. s. w. zur Natur eines Dinges gehören, wie bei allem Organischen, da
find sie auch eo ipso unverletzbar; aber nicht um ihrer selbst willen, sondern
weil sie von der Natur des Dinges unzertrennlich sind. Eine grobe Ver¬
letzung der Proportion ist häßlich, aber nicht weil Beobachtung der Pro¬
portion Schönheit ist. Ganz und gar nicht, sondern weil sie eine Verletzung
der Natur ist, also Heteronomie andeutet. Ich bemerke überhaupt, daß der
ganze Irrtum derer, welche die Schönheit in der Proportion oder in der
Vollkommenheit suchten, davon herrührt: sie fanden, daß die Verletzung der¬
selben den Gegenstand häßlich machte; daraus zogen sie gegen alle Logik den
Schluß, daß die Schönheit in der genauen Beobachtung dieser Eigenschaften
enthalten sei. Aber alle diese Eigenschaften machen bloß die Materie des
Schönen, welche sich bei jedem Gegenstände abändern kann; sie können zur
Wahrheit gehören, welche auch nur die Materie der Schönheit ist. Die
Form des Schönen ist nur ein freier Vortrag der Wahrheit, der Zweck¬
mäßigkeit, der Vollkommenheit.
Wir nennen ein Gebäude vollkommen, wenn sich alle Teile desselben 9
nach dem Begriffe und dem Zwecke des Ganzen richten, und seine Form
durch seine Idee rein bestimmt worden ist. Schön aber nennen wir es, wenn
wir diese Idee nicht zu Hilfe nehmen müssen, um die Form einzusehen, wenn
sie freiwillig und absichtslos aus sich selbst hervorzuspringen, und alle Teile
sich durch sich selbst zu beschränken scheinen. Ein Gebäude kann deswegen
(beiläufig zu sagen) nie ein ganz freies Kunstwerk sein, und nie ein Ideal
der Schönheit erreichen, weil es schlechterdings unmöglich ist, an einem Ge¬
bäude, das Treppen, Thüren, Kamine, Fenster und Öfen braucht, ohne Hilfe
eines Begriffs auszureichen, und also Heteronomie zu verbergen. Völlig rein
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