Die Architektur.
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verehrt würden. So sollte der rechte Winkel, die Verbindung der senkrechten
Linie mit der wagerechten, ein Bild des Gegensatzes Gottes gegen die Welt,
also der Schöpfung, so das Dreieck des Giebels ein Bild der Dreieinigkeit
sein. Der Kreis wegen seiner strengen Regelmäßigkeit wurde wieder ein Bild
der Gottheit, der Würfel, der Körper, dessen Grundfläche ein Quadrat ist,
ein Bild höherer Ordnung u. s. f. Auch die Zahlenverhältnisse habe man
in ähnlicher Weise heilig gehalten, und sie so zu fernerer Ausbildung dieser
symbolischen Künste benutzt.
Es ist nicht schwer, diese Behauptungen zu widerlegen, weil jeder fühlt, 6
daß es gesunden Sinnen nicht einsallen konnte, so schwerverständliche, tief¬
liegende Lehren, wie Schöpfung, Dreieinigkeit und dgl. durch so dürftige
Zeichen wie rechter Winkel und Dreieck mitzuteilen. Überdies waren diese
Formen durch die Natur vorgeschrieben, also gar nicht ein Gegenstand freier
menschlicher Wahl, was doch bei dem Symbole in jenem Sinne voraus¬
gesetzt ist. Wenn man endlich auch bei feineren, mehr willkürlichen Verhält¬
nissen mit solchen Nebenbeziehungen ein Spiel getrieben hat, so hat dies mit
der Kunst und der Schönheit nichts zu schaffen. Die Kunst stellt überall die
Sache selbst dar, das Werk spricht selbst, und es ist ihr entgegen, wenn da¬
mit noch ein Sinn verbunden werden soll, der nicht darin liegt.
Das Wahre, was dieser Annahme zum Grunde liegt, ist die hohe Be- 7
deutung der mathematischen Formen in der Architektur. Nicht, daß in ihnen
schon die Schönheit bestände, vielmehr liegt sie noch in etwas ganz anderem;
aber sie sind eine notwendige Bedingung, eine Grundlage derselben. Sie sind
die Gesetze, nach welchen die Ordnung im Reiche der unorganischen Natur
hergestellt wird, Gesetze, welche in der Wirklichkeit nicht frei zur Entwickelung
kommen, sondern von dem organischen Leben bedeckt werden. Sie bilden
daher das Maß, die ordnende Vorbereitung, aus welche erst die Schönheit
folgen kann.
Eine zweite Annahme über das Wesen der Architektur, welche weiter, 8
besonders auch unter den Architekten verbreitet ist, ist die, daß die Schönheit
des Bauwerkes in der Zweckmäßigkeit der einzelnen Teile bestehe. Wie
das ganze Gebäude zu einem gewissen Zwecke errichtet werde, z. B. als
Wohnhaus, als Tempel, so müsse auch jedes Glied seinen bestimmten Zweck
erfüllen, und dies in seinem Äußeren aussprechen, also die Säule das Gebälk
tragen, das Gebälk die Säulen verbinden und das Dach tragen u. s. f.
Diese Wohlordnung des Ganzen, das kein Teil überflüssig, keiner ohne deut¬
liche Stütze und Zusammenhang mit den übrigen sei, mache die Schönheit
des Ganzen ans. Alle Verzierungen seien hiernach nur so weit zu recht¬
fertigen, als sie Nutzen gewähren, oder doch denselben andeuten; Fenster-