Full text: Deutsches Lesebuch für Prima

Die Architektur. 
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Zunächst vergegenwärtige man sich die Entstehung der Baukunst. Schon 
oben, als wir die Schönheit im Reiche der wirklichen Erscheinungen suchten, 
kamen wir unter anderem darauf, daß jedes Werk menschlicher Hand schon 
einen Anklang des Schönen geben müsse, indem der natürliche Stoff das 
Gepräge geistiger Ordnung erhalte. Wir bemerkten indessen, daß die beab¬ 
sichtigte Zweckmäßigkeit und die Zufälligkeit der entstehenden Wohlgestalt der 
vollen Entwickelung selbständiger Schönheit entgegentrete. Sobald nun der 
Zweck der Arbeit nicht mehr ein sinnlich vereinzelter, dienender Zweck ist, 
sondern in der Arbeit liegt, und mit dem Streben nach Schönheit verbunden 
ist, beginnt die Kunst. Damit sie Baukunst werde, bedarf es dann auf dem 
Gebiete der bildenden Künste nur des Zusatzes, daß sie uoch nicht aus die 
Darstellung der Schönheit der belebten und bewußten Natur gerichtet sei. 
Die Anforderung der Gestaltung des unorganischen Stoffes ohne bestimmten 
menschlichen Zweck ist indessen eine harte und schwierige; denn die unorganische 
Natur ist ohne eigenen inwohnenden Zweck, sie ist die tote, für fremde Be¬ 
nutzung bereit liegende Masse. Es bedarf daher einer bestimmten geistigen 
Richtung, welche die Einseitigkeit deS Zweckes ausschließt. Die Arbeit der 
Baukunst muß eine religiöse That sein; erst bei dem Bau des Tempels 
entsteht Pie architektonische Kunst. Die religiöse Frömmigkeit muß aber mit 
einer künstlerischen Pietät verbunden sein, mit dem Gefühl einer der 
Würde der Gottheit entsprechenden Wahlordnung der Erscheinung und mit 
der beginnenden Kenntnis von den Anforderungen der Schönheit und der 
Kunst. Wenn ein noch rohes Volk seinem Gotte zu Ehren einen Steinhaufen 
auftürmt, wenn es, wie etwa die alten Kelten, Felsblöcke künstlich über¬ 
einander erhebt oder zur Einschließung des Tempelraumes im Kreise aufstellt, 
so ist hier die religiöse Stimmung noch von keiner künstlerischen begleitet. 
Erst dann trat diese ein, als die Meister sich bemühten, dem Werke durch 
die Behandlung der Formen innere organische Einheit, durch die Trennung 
und Verbindung einzelner Teile den Charakter der Harmonie, Symmetrie und 
Proportion zu verleihen und es dadurch zu einer Erscheinung zu gestalten, 
welche des Gottes würdig, das heißt, soweit es innerhalb der Grenzen der 
unbelebten Natur möglich, seinen Eigenschaften entsprechend sei. 
Das nächste Erfordernis dieser Kunst ist sodann, daß die geistige Thätigkeit 
ihrer Aufgabe treu bleibe, daß sie die Gesetze des unorganischen Körpers zu 
den ihrigen mache. Daher zunächst die notwendige Rücksicht auf Schwere 
und Kohärenz. Das Gesetz der Schwere und der Kohärenz gehört zum Wesen 
der unorganischen Natur. In der organischen ist es zwar auch, aber durch 
die inwohnende Lebenskraft aufgehoben. Für diese ist es daher nicht ein 
wesentlich charakteristischer Zug; in jener aber muß es frei und selbständig
	        
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