Full text: Deutsches Lesebuch für Prima

310 III. 29. Win ckelmann: Betrachtung der Kunstwerke. 
17 Die größere Glätte an Figuren tiefgeschnittener alter Steine ist nicht 
das Geheimnis, welches Mass ei der Welt zum Besten mitteilend entdecken 
will, wodurch sich die Arbeit eines alten Künstlers im Steinschneiden von den 
neuern unterscheidet: unsere Meister in ihrer Kunst haben die Glätte so hoch 
als die Alten getrieben; die Glätte der Ausarbeitung ist wie die feine Haut 
im Gesichte, die allein nicht schön macht. 
18 Ich tadle dadurch nicht die Glätte einer Statue, da sie zur Schönheit 
viel beiträgt, nnerachtet ich sehe, daß die Alten das Geheimnis erreicht haben, 
eine Statue bloß mit dem Eisen auszuarbeiten, wie am Laokoon geschehen ist. 
Es ist auch in einem Gemälde die Sauberkeit des Pinsels ein großer Wert 
desselben; dieses muß aber von Verschmelzung der Tinten unterschieden werden; 
denn eine bnumrindenmäßige Fläche einer Statue würde so unangenehm sein, 
als ein bloß mit Borstpinseln ausgeführtes Bild, sowohl in der Nähe als in 
der Ferne. Man muß mit Feuer entwerfen und mit Phlegma ausführen. 
Meine Meinung geht aus solche Arbeiten, deren größtes Verdienst der Fleiß 
allein ist, wie die aus der Berninischen Schule in Marmor, und die von 
Denner, Seybold und ihresgleichen auf Leinwand. 
19 Mein Leser! Es ist diese Erinnerung nötig. Denn da die meisten Men¬ 
schen nur an der Schale der Dinge umhergehen, so zieht auch das Liebliche, 
das Glänzende, unser Auge zuerst an, und die bloße Warnung vor Irrungen, 
wie hier nur geschehen können, macht den ersten Schritt zur Kenntnis. 
20 Ich habe überhaupt in etlichen Jahren meines Aufenthalts in Italien 
eine fast tägliche Erfahrung, wie sonderlich junge Reisende von blinden Führern 
geleitet werden, und wie nüchtern sie über die Meisterstücke der Kunst hinflattern. 
Ich behalte mir vor, einen ausführlicheren Unterricht hierüber zu erteilen. 
30. 
Anweisung des modernen Künstlers xrrm guten Geschmacke. 
Von Raphael Mengs. 
Gedanken über die Schönheit und über den Geschmack in der Malerei. (Zuerst 
Zürich 1762.) Kapitel II, § 7. 
Zwei Wege sind, auf tvelchen man zum guten Geschmacke komnit, wenn 
man daraus geht von der Vernunft begleitet, der eine ist schwerer als der 
andere. Der schwerste ist, aus der Natur selbst das Notwendigste und 
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