Die epische Stimmung.
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Töne durch Zwischentöne zu mildern, erschütternde allmählich vorzubereiten
und ruhig verhallen zu lassen. Sowohl objektiv in seinem Gegenstände, als
subjektiv in unserer Einbildungskraft und Empfindung bringt er eine stetige
und ununterbrochen zusammenhängende Folge hervor. Wenn der lyrische und
tragische Dichter (welche insofern in Eine Klaffe gehören) uns oft stoßweise
führen, und uns zuletzt plötzlich auf einer steilen Höhe verlassen; so durch¬
läuft er den ganzen Kreislauf, sowohl den objektiven des Lebens, als den
subjektiven der Empfindung, mit uns. Denn er will nicht durch einen plötz¬
lichen und entscheidenden Streich Rührung und Erschütterung, sondern durch
Ebenmaß und Totalität des Ganzen Erhebung und Ruhe bewirken. Was
also das Leben als eine Folge, und eine Folge mannigfaltiger Ereignisse, als
ein Ganzes charakterisiert, dies findet man in ihm vollständig, aber in einer
einzigen Handlung dargestellt, wieder.
Eine entschiedene Richtung zur epischen Dichtkunst kann daher niemand,
als demjenigen eigen sein, der lieber in der äußeren Wirklichkeit, als ab¬
gesondert und zurückgezogen in sich lebt, der sich mehr mit dem wirklichen
sinnlichen Dasein der Dinge, als mit dem abgezogenen Gedanken und der
von aller unmittelbaren sinnlichen Gültigkeit entblößten Empfindung beschäftigt:
und wiederum, wer hierzu einen entschiedenen Hang hat, und damit dichterisches
Genie verbindet, dessen Richtung kann nicht anders, als gleichfalls entschieden
episch genannt werden. Dadurch begreift man noch besser, wie sich in dem
epischen Gedichte auf einmal alles vereinigt, woraus die klarste Objektivität, die
lebendigste Sinnlichkeit, der thätigste Mut, die größte Fülle der Kraft, die
allgemeinste Harmonie hervorgeht, und wie sich diese Gattung notwendig aus
den Umfang der Welt und die Dauer des ganzen Lebens ausdehnt. Denn
die auf einen bestimmten Punkt gerichtete Empfindung (um die Natur der
epischen Stimmung an derjenigen, die ihr geradezu entgegengesetzt ist, zu
zeigen) ist immer ein Zustand der Spannung und Anstrengung, der nicht
anders als nur Momente lang währen kann.
Wenn man das epische Gedicht seines dichterischen Gewandes entkleidet,
so bleibt dasjenige übrig, was die Geschichte in ihrer geistvollsten Behandlung,
und die Naturbeschreibung in ihrer größten Allgemeinheit gewährt — ein
vollkommener Überblick über die Menschheit und die Natur in ihrer Ver¬
bindung. Der wesentliche Unterschied liegt nur in dem, was ein reines Werk
der Einbildungskraft ist, darin nämlich, daß der Dichter, um zu einem so
allgemeinen Überblick zu führen, nicht, wie jene, wirklich der ganzen Voll¬
ständigkeit der Objekte bedarf, sondern einen subjektiven Weg kennt, auch ver¬
mittelst eines einzigen Objekts gerade dasselbe und in der That noch mehr
zu leisten, da er das Gemüth in eine gleichsam unendliche Stimmung ver-