320 III. 32. Wilh elm von Humboldt: Die epische Stimmung.
setzt, in der sie über jede, möglicherweise gegebene Anzahl von Objekten hinaus¬
geht. Unter allen Dichtern steht daher der epische auf dem höchsten Stand¬
punkte und genießt der weitesten Aussicht, und unter allen Dichtungsarten ist
die epische ant meisten fähig, den Menschen mit dem Leben zu versöhnen und
ihn für das Leben tauglich zu machen.
5 Zugleich aber kommt keine andere Dichtungsart dem einfachsten und
reinsten Begriff der Kunst, der bildlichen Darstellung der Natur, so nahe,
und verbindet damit so vollkommen auch den eigentümlichen Vorzug der Dicht¬
kunst, die Schilderung der Folge der Erscheinungen und der inneren Natur
der Gegenstände. Mehr als irgend eine andere giebt sie zugleich der Musik,
Gestalt, und den bildenden Künsten Bewegung und Sprache.
6 Aber diese Bewegung ist immer nur in dem Gegenstände, sie reißt nicht
auch zugleich den Dichter und den Leser mit sich fort. Daher ist die Stimmung
in beiden immer mehr verweilend, mehr bildend; da hingegen der lyrische
Dichter noch in einem buchstäblicheren Sinne als in welchem Pindar diese
Worte braucht, von sich ausrufen kann:
Kein Bildner bin ich!
Nicht ruhet zögernd mein Werk
auf weilendem Fußgestell;
nein! mit vollen Segeln,
auf eilendem Nachen
wallet mein Lied dahin!
Denn in der That folgt er selbst den: Wirbel der Empfindung, den er schildert,
und eilt, statt bei einzelnen zu verweilen, immer von Bild zu Bild, von
Empfindung zu Empfindung fort. Der epische Dichter hält alles das, woran
er schon vorübergegangen ist, und das, wozu er eben erst gelangt, zugleich fest,
und vereinigt es in ein Ganzes; der lyrische bewahrt das, was er hinter sich
zurückläßt, nur noch in der Wirkung auf, die es auf das zunächst Folgende
ausübt.