Aristoteles über Wirkung der Tragödie.
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Musik — sagt er (Nachlese zu Aristoteles' Poetik. 1826) — so wenig als
irgend eine Kunst vermag auf Moralität zu wirken. Tragödien — fügt er
hinzu und wenn jemand, so darf Er hier mitreden — Tragödien und
tragische Romane beschwichtigen den Geist keineswegs, sondern versetzen das
Gemüt nur in Unruhe"; und er leugnet es, daß Aristoteles „indem er ganz
eigentlich von der Konstruktion der Tragödie rede, an die Wirkung und,
was mehr sei, an die entfernte Wirkung denken könne, welche eine Tragödie
auf den Zuschauer vielleicht machen würde." So hat Goethe sich denn
von dieser für ihn zwingenden Rücksicht, jede moralische Abzweckung aus der
Definition zu verbannen, auch bei seinem Erklärungsversuch der aristotelischen
Worte leiten lassen und deshalb die Katharsis von dem Zuschauer hinweg in
die tragischen Personen verlegen wollen durch folgende Übersetzung: „die Tra¬
gödie ist eine Nachahmung einer bedeutenden und abgeschlossenen Handlung,
die nach einem Verlauf von Mitleid und Furcht mit Ausgleichung solcher
Leidenschaften ihr Geschäft abschließt." Es bedarf für Kenner des Griechischen
keines Wortes darüber daß R' sXiov xal (poßov neQaivovGa xdSnQcscv
nimmermehr heißen kann „nach einem Verlauf von Mitleid und Furcht mit
Katharsis abschließend" sondern nur heißen kann „durch Mitleid und
Furcht Katharsis bewirkend"; und Kenner des Aristoteles, wie sehr sie
auch über die bestimmte Bedeutung von Katharsis im unklaren sein mögen,
wissen doch aus dem achten Buch der Politik, daß mit diesen: Wort jeden¬
falls ein Vorgang im Gemüte des Hörers und Zuschauers (axQoartjg, $sanjg)
von Musik und Tragödie, keinenfalls ein ausgleichender Abschluß der dar¬
gestellten Handlung bezeichnet ist. So leicht es nun gelang Goethes Über¬
setzung als eine völlig verunglückte zurückzuweisen, so wenig haben die zahl¬
reichen späteren Behandler der aristotelischen Stelle die empfindlichen Übel¬
stünde zu heben vermocht, welche den Dichter von der Lessingschen Ansicht ab¬
schrecken mußten. Der erwähnenswerteste von diesen späteren Erklärern, Eduard
Müller (Theorie der Kunst bei den Alten II, 62 und 377—388) gelangt
unter fleißiger Beachtung vieler in den übrigen aristotelischen Schriften zer¬
streuten Winke zu dem Ergebnis: „Wer sollte noch zweifeln, daß eben in Um¬
wandlung der Unlust, die dem Mitleid und der Furcht anhaftet, in Lust die
Reinigung dieser und andrer Leidenschaften besteht, oder damit wenigstens
im innigsten Zusammenhang steht." Aber mit solchen Distributiv-Partikeln ist
es bei Begriffsbestimmungen immer eine mißliche Sache. Enthält der zweite
durch „oder" eingeleitete Satzteil das Richtige und darf man daher von
der Umwandlung der Unlust in Lust nur sagen, daß sie mit der Katharsis
in Zusamnienhang stehe, sei dieser Zusammenhang so innig er wolle:
so fragt man noch immer mit Recht, worin besteht denn aber die