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Bei der reißenden Schnelligkeit ihrer Gefühle ist es solchen Menschen
doppelt schwer, das Gleichgewicht des Gemüts zu behaupten; daher verlieren
sie häufig den Kopf, und dies ist für die Kriegführung die schlimmste ihrer
Seiten. Aber es würde gegen die Erfahrung sein, zu behaupten, daß sehr reiz¬
bare Gemüter niemals stark, d. h. auch in ihren stärksten Regungen im Gleich¬
gewicht sein könnten. Warum sollte auch das Gefühl für die eigene Würde in
ihnen nicht vorhanden sein, da sie in der Regel den edleren Naturen angehören.
Dies Gefühl fehlt ihnen selten, es hat aber nicht Zeit, wirksam zu werden.
Hinterher sind sie meist von Selbstbeschämung durchdrungen. Wenn Erziehung,
Selbstbeobachtung und Lebenserfahrung sie früh oder spät das Mittel gelehrt
haben, gegen sich selbst auf der Hut zu sein, um in Augenblicken lebhafter An¬
regung sich des in ihrer Brust ruhenden Gegengewichtes noch beizeiten bewußt
zu werden, so können auch sie einer großen Seelenstärke fähig sein.
Endlich sind die wenig beweglichen, aber darum tief bewegten Menschen,
die sich zu den vorigen wie die Glut zur Flamme verhalten, am meisten ge¬
eignet, mit ihrer Titanenkraft die ungeheuren Massen wegzuwälzen, unter
welchen wir uns bildlich die Schwierigkeiten des kriegerischen Handelns vor¬
stellen können. Die Wirkung ihrer Gefühle gleicht der Bewegung großer Massen,
die, wenn auch langsamer, doch überwältigender ist.
Obgleich solche Menschen nicht so von ihren Gefühlen überfallen und zu
ihrer eigenen Beschämung fortgerissen werden wie die vorigen, so wäre es
doch wieder gegen die Erfahrung, zu glauben, daß sie das Gleichgewicht nicht
Verlierer: und blinder Leidenschaft nicht unterwürfig werden könnten; dies wird
vielmehr immer geschehen, sobald ihnen der edle Stolz der Selbstbeherrschung
fehlt, oder so oft er nicht stark genug ist. Wir sehen diese Erfahrung am häufigsten
bei großartigen Männern roher Völker, wo die geringe Verstandesausbildung
immer ein Vorherrschen der Leidenschaft begünstigt. Aber auch unter den ge¬
bildeten Völkern und in den gebildetsten Ständen derselben ist ja das Leben
voll solcher Erscheinungen, wo Menschen durch gewaltsame Leidenschaften fort¬
gerissen werden, wie im Mittelalter die auf Hirschen angeschmiedeten Wild¬
diebe durch das Gehölz.
Wir sagen es also noch einmal: Ein starkes Gemüt ist nicht ein solches,
welches bloß starker Regungen fähig ist, sondern dasjenige, welches bei den
stärksten Regungen im Gleichgewicht bleibt, so daß trotz den Stürmen in der
Brust der Einsicht und Überzeugung wie der Nadel des Kompasses auf den:
sturmbewegten Schiff das feinste Spiel gestattet ist.
Mit dem Namen der Charakter st ärke oder überhaupt des Cha¬
rakters bezeichnet man das feste Halten an seiner Überzeugung, sie mag nun
das Resultat fremder oder eigener Einsicht sein, und mag sie Grundsätzen, An¬
sichten, augenblicklichen Eingebungen, oder was immer für Ergebnissen des Ver¬
standes angehören. Aber diese Festigkeit kann sich freilich nicht kund tun, wenn
die Einsichten selbst häufigem Wechsel unterliegen. Dieser häufige Wechsel braucht
nicht die Folge fremden Einflusses zu sein, sondern er kann ans der eigenen