Zur Erdkunde und Nakurwistenschufk
35. Natürliche und politische Grenzen.
Von V. S t e i n e ck e nach Fr. Ratzel.
Wir sind gewohnt, uns unter der Grenze eine Linie vorzustellen, die
haarscharf angibt, wo die Ausdehnung des einen mit dem Raumgebiet des
anderen zusammentrifft; jedoch bei genauerer Betrachtung entwickelt sich die
Grenzlinie als Grenzstreifen, und eine tote Linie finden wir nur dann, wenn
der eine der beiden Körper tot ist. Selbst so deutliche Grenzen wie unsere Haut
sind keine genauen Scheideflächen, sondern die Luft reicht bis in die Haut hinein
und wird von den Ausdünstungen der Haut beeinflußt. Ähnlich ist es mit der
Linie, die wir als Typus einer scharfen Grenze ansehen, mit der Küste. Sie ist
nirgends klar ausgeprägt, sondern sie flutet in ewiger Bewegung hin und her;
in ernstem Spiel wogen die Wellen heran, treiben Sand an und bröckeln Erde
los; außer diesem schmalen Saum, der den Wellen als Spielplatz dient, be¬
zeichnet ein breiterer Streifen das Gebiet von Ebbe und Flut; meilenweit ins
Land hinein erkennen wir den Tummelplatz des Streites zwischen dem festen
und beweglichen Element: Dünenzüge und zerstörte Inseln, Hasss und
Nehrungen, Klippenküsten und Wattenmeere, Marschländer und Jnselfelsen be¬
zeichnen ihn; Föhrden, in denen Süßwasser über Salzflut lagert, und Delta-
länder, deren Boden aus Fluß- und Meeresschlamm besteht, sind solche Über¬
gänge. Auch die feste Erdkruste ist keine scharfe Grenze zwischen den drei
Aggregatzuständen, denn in die Erde dringt Wasser und Luft, Staub durchsetzt
die Luft, Schlamm trübt das Wasser, Wasserdampf sättigt die Atmosphäre.
Immer entstehen zwischen grenzenden Massen Gebiete, die von beiden Seiten
beeinflußt werden, nämlich dazwischenliegende, zeitlich später entstandene Über¬
gangsgebilde.
Die Grenze ist also eine Lebensform, und da alle Lebensformen nimmer
ruhen, so ist die Grenze eine Bewegungserscheinung, die uns angibt, wie weit
der Kamps um den Lebensraum zwischen den Grenzkörpern augenblicklich ge¬
diehen ist.
Gilt das auch für die politische Grenze? Können wir den schwarzen Linien
aus der Karte Leben und Bewegung ansehen? Gewiß! Keine Grenze verläuft