Full text: [Teil 7 = (Für Prima)] (Teil 7 = (Für Prima))

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ja als gerade Linie, sondern sendet Ausläufer vor, wie der Firn den Gletscher 
ins Tal vorschiebt, oder sie buchtet sich zurück und zeigt dadurch, daß an dieser 
Stelle die Lebensbedingungen für den Nachbar günstiger liegen. Jede Wald¬ 
grenze hat ihre Vorposten, die Baumgruppen und Einzelbäume, jedes Volk 
hat seine Vorposten und schickt Ausläufer in fremdes Gebiet hinein als Zeichen, 
daß hier ein Vorstoß stattfindet, oder die Grenze zieht sich zurück als Zeichen 
der Schwäche. Solche Vorposten sind zum Beispiel die deutschen Sprachinseln 
im slowenischen oder tschechischen Gebiet, und man müßte also eigentlich eine 
doppelte Grenzlinie ziehen, wie wir etwa in fremden Ländern außer unserer 
Besitzung auch unsere Interessensphäre begrenzen oder wie man in früheren 
Zeiten die Mark als Grenzwache vorschob. Wir erkennen Grenzen, die sich ent¬ 
gegenwachsen — Rußland und England zeigen sie in Asien —, wo sich an den 
Wachstumspitzen eine große politische Energie ansammelt; wir erkennen Rück¬ 
zugslinien, wo jeder Fußbreit Landes von höchstem Wert wird. Zwischen 
größeren Staaten liegen auch wohl kleinere Zwischengebilde amphibischer Natur; 
solche Puffer sind die Romanen der Alpen zwischen Deutschen und Italienern, 
die Polen zwischen den Russen und Deutschen. Wachstum, Zusammenstoß, Rück¬ 
gang und neues Wachstum folgen einander im strittigen Saume und erfüllen 
das Zwischengebiet mit Ruinen. Ruinen bezeichnen den Gegensatz zwischen Meer 
und Land, zwischen Steppe und Fruchtland, zwischen Nomaden und Kultur¬ 
völkern, zwischen Islam und Christentum, und am deutschen Rhein zwischen 
Römern und Germanen, Franzosen und Deutschen. Jedes Land umgibt sich 
einmal mit einer geschichtlichen Trümmerwelt von kleineren Staaten, die von 
dem schwachen Ganzen abgebröckelt sind. So ragt unser Deutschland wie ein 
alter Bau aus seinen eigenen Trümmern hervor; unsere Grenzen erinnern 
daran, daß wir von Westen zurückgedrängt sind; die Bruchstücke aus der Karte 
lassen es erkennen, daß sie nicht immer unser Land von den Quellen und von 
der Mündung des Rheines trennten. 
In all unseren Grenzen liegt die Geschichte einer hin- und herschwankenden, 
vielfach zurückgehaltenen und daher noch unfertigen Entwicklung ausgedrückt. 
Am ungünstigsten ist unsere Grenze von Passau bis Memel. Zwei gewaltige 
Massen, mit Millionen slawischer Völker angefüllt, dringen gegen das Innere 
Deutschlands vor und umfassen das obere Elbe- und mittlere Weichselgebiet. 
Drei politische Landzungen mit Passau, Ratibor und Tilsit an der Spitze ragen 
in das slawische Völkermeer, und unsere Sprachgrenze dort gibt Zeugnis von 
der mächtigen Völkerbrandung. Eine zweite Einbuchtung zeigte unser Reich 
früher an der Westgrenze, wo die Bastionen von Metz und Straßburg keil¬ 
förmig gegen uns vorgeschoben waren und unsern Reichsleib einschnürten; hier 
ist die Grenze jetzt gebessert und springt bei Metz gar gegen Frankreich vor, ein 
schönes Beispiel dafür, daß Ausläufer wie die spitzen Ecken eines Forts eine 
feste Stelle des Stärkeren bedeuten. Und diese Vorsprünge müssen mit dem 
Staatszentrum fest verbunden sein, peripherische Interessen müssen unterdrückt 
werden, sonst bröckelt das Grenzgebiet ab. Jakob Grimm sagte 1814: „Es liegt
	        
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