Full text: [Teil 7 = (Für Prima)] (Teil 7 = (Für Prima))

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Art des Angriffes bestimmen. Nur der Mensch aber erlangt die Fertigkeit der 
willkürlichen und bewußten Vergleichung, daß er mit feiner Abstraktion einer¬ 
seits bis zum Satz von der Erhaltung der Masse und der Erhaltung der 
Energie sich erheben und anderseits im nächsten Augenblick die Gruppierung 
der Eisenlinien im Spektrum beobachten kann. Indem er die Objekte seines 
Vorstellungslebens so behandelt, wachsen seine Begriffe dem Nervensystem selbst 
entsprechend zu einem weit verzweigten organisch ' gegliederten Baume aus, 
an welchem er jeden Ast in seinen feinsten Ausläufern verfolgen kann, um nach 
Bedürfnis von da an wieder zum Stamm zurückzukehren. 
Der englische Forscher Whewell hat behauptet, daß zur Entwicklung der 
Naturwissenschaft zwei Faktoren zusammenwirken müßten: Ideen und Beob¬ 
achtungen, Ideen allein verflüchtigen sich zur Spekulation, Beobachtungen 
allein liefern kein organisches Wissen. In der Tat sehen wir, wie es auf die 
Fähigkeit ankommt, vorhandene Ideen neuen Beobachtungen anzupassen. Zu 
große Nachgiebigkeit gegen jede neue Tatsache läßt gar keine feste Denkgewohn¬ 
heit auskommen. Zu starre Denkgewohnheiten werden der freien Beobachtung 
hinderlich. Im Kampfe, im Kompromiß des Urteils mit dem Vorurteil, wenn 
man so sagen darf, wächst unsere Einsicht. 
Ein gewohntes Urteil, ohne vorausgegangene Prüfung auf einen Fall 
angewendet, nennen wir ein Vorurteil. Wer kennt nicht dessen furchtbare Ge¬ 
walt! Seltener denken wir daran, wie wichtig und nützlich das Vorurteil sein 
kann. So wie niemand physisch bestehen könnte, wenn er die Blutbewegung oder 
Atmung, die Verdauung seines Körpers durch willkürliche, vorbedachte Hand¬ 
lungen einleiten und im Stande halten müßte, so könnte auch niemand intel¬ 
lektuell bestehen, wenn er genötigt wäre, alles, was ihm vorkommt, zu beur¬ 
teilen, anstatt sich vielfach durch sein Vorurteil leiten zu lassen. Das Vorurteil 
ist eine Art Reflexbewegung im Gebiete der Intelligenz. 
Auf Vorurteilen, d. h. auf nicht jedesmal aus ihre Anwendbarkeit ge¬ 
prüften Gewohnheitsurteilen, beruht ein guter Teil der Überlegungen und 
Handgriffe des Naturforschers, auf Vorurteilen beruht die Mehrzahl der Hand¬ 
lungen der Gesellschaft. Mit dem plötzlichen Erlöschen aller Vorurteile würde 
sie selbst sich ratlos auslösen. Und eine tiefe Kenntnis der Macht der intellek¬ 
tuellen Gewohnheit hat jener Fürst verraten, der seine den rückständigen Sold 
ungestüm fordernde Leibgarde durch das übliche Kommandowort zum Abzüge 
zwang, wohl wissend, daß sie diesem nicht widerstehen würden. 
Erst wenn die Divergenz zwischen dem gewohnten Urteil in der Tatsache 
zu groß wird, verfällt der Forscher einer empfindlichen Täuschung. Im prakti¬ 
schen Leben des einzelnen und der Gesellschaft treten dann jene tragischen 
Entwicklungen und Katastrophen ein, in welchen der Mensch, die Gewohnheit 
über das Leben statt in den Dienst desselben stellend, ein Opfer seines Irrtums 
wird. Es kann eben dieselbe Macht, welche uns geistig fördert, nährt und erhält, 
unter anderen Umständen uns wieder täuschen und vernichten.
	        
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