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Auf der oberen Stufe bildet das Lesebuch nicht mehr den Mittelpunkt,
sondern nur noch eine Ergänzung der Schullektüre. Für seine erste Aufgabe,
die Behandlung der klassischen Dichtung, ist der deutsche Unterricht nicht
auf dasselbe angewiesen; er verwendet besser und bequemer die zahlreich vor¬
handenen Einzelausgaben der klassischen Dichter. Unternimmt es der Lehrer
jedoch, wie er das stets sollte, diese Aufgabe zu erweitern und zu einem Ver¬
ständnis der deutschen Geistesentwicklung in ihren allgemeinen Zügen vor¬
zudringen, so muß er auf Schritt und Tritt die Ergebnisse anderer Lehrfächer
und die Privatlektüre der Schüler heranziehen, zu der er nur die Anregung
und die allgemeinen Gesichtspunkte geben kann. Hier vor allem wird ihm das
Lesebuch zu Hilfe kommen, indem es die Verbindung der übrigen Lehrfächer
mit der deutschen Lektüre herstellt und somit die Einheit der Bildung anbahnen
hilft, die das letzte Ziel des höheren Unterrichts ist. Um dieser Ausgabe zu
genügen, wird es zunächst die wichtigsten Erscheinungen und Entwicklungen
auf dem Gebiete der Geschichte und zurnal der Geistesgeschichte durch Lese¬
stücke berücksichtigen müssen, welche geeignet sind, das Werden und das Wesen
der modernen, insbesondere der deutschen Kultnr gleichsam von innen heraus
zum Verständnis zu bringen.
Allein die Einheit der modernen Bildung beruht nicht bloß aus der
geschichtlichen Entwicklung; sie ist in dem allgemein gültigen sachlichen Zu¬
sammenhang begründet, der die verschiedenen Wissensgebiete umfaßt und
zu einer großen Weltansicht zusammenschließt: wenigstens einen Ausblick in
diesen Zusammenhang sollte die höhere Schule ihren Zöglingen vermitteln.
Um dies Ziel zu erreichen, würde es freilich eines propädeutischen Unterrichts
in der Philosophie bedürfen, und einem solchen kann — ganz abgesehen davon,
daß es nach den heute geltenden Lehrplänen an Raum dafür fehlt — das
deutsche Lesebuch nicht so nebenbei zur Grundlage dienen. Wohl aber kann
es eine Art Propädeutik der Propädeutik geben, die nicht minder notwendig
ist: es braucht jenen Zusammenhang nicht durch philosophische Lesestücke
zum Ausdruck zu bringen, aber die Lesestiicke, die es enthält, müssen in
philosophischem Geiste gedacht sein. Das einzelne muß in seinem allgemeinen
Zusammenhang erscheinen und unter allgemeinen Gesichtspunkten verstanden
und gewürdigt werden, die großen Gebiete der Geistes- und der Natur¬
wissenschaft müssen in ihrer Eigenart und in ihrer Bedeutung hervortreten.
Diesen Grundsätzen entsprechend ist der vorliegende letzte Teil unseres
Lesebuchs angelegt. Er strebt, den Prosateil des Obersekundabandes weiter-