Full text: Für Ober-Sekunda und Prima (Prosah. 7)

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Prosaheft VII. 
nis der menschlichen Seele. Vielbewundert ist auch die Sicherheit, mit 
der er zu semen Gestalten Kontrastfiguren erfand; neben die fast heroisch 
männlichen Frauengestalten stellte er zart weibliche, empfindungsvolle, 
aber tatenscheue Mädchen, neben die geraden, offenen Helden die so¬ 
phistische Schlauheit anderer. 
Er war eine gläubige Natur, aber er streifte von den Bildern der 
Götter fort, was mit dem hohen Adel der Himmlischen sich nicht ver¬ 
trägt, und seiner heiteren Klarheit fehlt der düstere Zug abergläubischer 
Mystik und die begeisterte Raserei des Dionysos. Ahnungen, Träume 
und Orakel verkünden das Zukünftige, gewitterschwüle Stimmung lagert 
über dem Hause, in das der Blitz tragischer Vernichtung fahren wird; 
um so schärfer kontrastiert das verblendete Sicherheitsgefühl, in welchem 
der kurzsichtige Mensch sich wiegt. Ost wendet der Dichter schneidende, 
tragische Ironie an und läßt die Menschen gerade aus das vertrauen, 
was sie verdirbt. Manchmal scheinen die Menschen als Spielball eines 
launischen Geschicks wie in der Sage; „und um die Nichtigkeit und das 
Leid des Lebens, um sein kurzes Glück und die Unsicherheit seines 
Friedens" tönt seine Klage wieder und wieder, aber er weiß doch den 
Eindruck hervorzurufen, daß des Menschen Schicksal sein Charakter ist, 
und in der Eigenschaft, die seine Größe ausmacht, die ihn zu helden¬ 
haftem Tun erhebt, wurzelt auch die verderbliche Neigung, vermessener 
Trotz, törichte Uberhebung, leidenschaftliches Fortstürmen, die zum Unter¬ 
gang unentrinnbar führen. Ans dieser Notwendigkeit, die des Menschen 
Wesen bei aller Freiheit des Willens bestimmt, ergibt sich sein Handeln, 
und lange vor der Katastrophe hat die Gottheit das Kommende er¬ 
kannt. Von 123 Dramen, die Sophokles gedichtet haben soll, sind sieben 
erhalten. Obwohl drei von ihnen dem Sagenkreise des Ödipus an¬ 
gehören, haben sie doch nicht die Verbindung zur Trilogie. Nicht mehr 
in dem Zusammenhang eines Schicksals der ganzen Familie erscheint 
hier der Mensch, so sehr er auch durch die ererbte Art mitbestimmt ist, 
sondern sein Tun allein interessiert uns. 
Ödipus, einst als Kind ausgesetzt und aus dem Familienzusammen¬ 
hang entwurzelt, geht nach Delphi, um die Wahrheit zu erfahren; aber 
gerade das Orakel des Gottes treibt ihn dem Schicksal zu, dem er ent¬ 
rinnen will und das schon vor seiner Geburt dem Kinde zubestimmt 
war: er tötet ahnungslos den Vater, der dem einsam wandernden Jüng¬ 
ling herrisch begegnet, er löst klugen Geistes das Rätsel der Sphinx 
und wird Gemahl der verwitweten Königin von Theben, seiner Mutter. 
Nach vielen Jahren trifft der Groll des Gottes das Land. Ödipus 
forscht sogleich landesväterlich nach der Ursache der Seuche. Da ent¬ 
hüllt er Zug um Zug seine eigene Vergangenheit, verblendet, leiden¬ 
schaftlich drängend und in hellem Scharfsinn auf falsche Wege ab¬ 
irrend. Mitleid und Furcht, Hoffen und Bangen erfüllen den Zuschauer
	        
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