F. Rösiger, Das Dreigestirn der attischen Tragödie.
105
während der dramatisch hochgespannten Handlung, in der der König die
vernichtende Wahrheit ans Licht zieht. Die Mutter und Gemahlin er¬
hängt sich, der König sticht sich die Augen aus, die das Sonnenlicht
nicht mehr schauen dürfen. Die frevelhafte Beziehung, in die er ahnungs¬
los zu seiner Familie gerät, wird ihm moralisch doch voll angerechnet.
In solcher Verflechtung der Schicksale sah der antike Glaube die unent¬
rinnbare Macht des Götterwillens. Und doch ist Ödipus ein kluger,
königlich seines Amtes waltender Herrscher; aber die jähe Leidenschaft¬
lichkeit seines Stammes fehlt auch ihm nicht und dem Klugen nicht die
Kurzsichtigkeit des Menscheu. Die erschütternde Gewalt der Dichtung
tritt in dieser Vereinigung der Grundelemente alles Tragischen auch für-
moderne Geister noch herzergreifend in die Erscheinung.
In seinem letzten Werke, in „Ödipus auf Kolonos" gab der Dichter
dem Leben des blinden Greises einen halbwegs versöhnenden Abschluß.
Au der Hand seiner Töchter als Bettler umherirrend findet er Ruhe
und Tod im attischen Lande, dem sein Heroengrab Sicherheit bringt,
aber schneidend scharf fallen die Flüche, die der Todmüde den lieblosen
Söhnen und der grausamen Heimat sendet. König Lears Verwün¬
schungen und die Königin Margarethe in Richard III. zeigen bei Shake¬
speare verwandte Charaktere und Stimmungen. Von wundervoller Schön¬
heit ist des Dichters Chorgesang auf die Herrlichkeit seines heimatlichen
Gaues Kolonos.
Besonders reich an solchen Chorliedern ist die dritte Tragödie ans
dem thebanischen Sagenkreise. Antigone ist eine der edelsten Frauen
der ganzen Poesie: „nicht mit zu hassen, mit zu lieben gab ihr die
Natur." Ihre Liebe ist nicht nur zarte Empfindung, sondern Tat, Tat
in heroischer Größe. Sie bewährt sie in der Bestattung ihres Bruders,
an dem sie die fromme Sitte, das ungeschriebene Recht des Götter¬
rechtes erfüllt, während der neue Stadtherr, ihr Oheim Kreon, das Be¬
gräbnis verbietet. Sie wird gefangen, und hoheitsvoll und schroff
verteidigt sie ihre Pflicht und das religiöse Gebot gegen den angeblichen
Staatswillen des Fürsten. Erst angesichts der Grabkammer kommen
bei ihr auch weichere Empfindungen zum Ausdruck. Im Gegensatz zu
ihr steht die zarte, reine, aber tatscheue Schwester Jsmene. Uber Kreon
aber bricht das Unglück in mächtigen Schlügen herein; der Sohn, Anti¬
gones Verlobter, lehnt sich gegen ihn auf und geht zu ihr in den Tod,
die verzweifelte Mutter folgt ihm. Zu spät lernt der herrische Fürst
sich beugen vor der Gottesfügung: es ist das tragische „zu spät".
Helden, die unbeugsam auch gegenüber einem harten Schicksal ihren
Charakter bewahren, sind „Aias" und „Philoktet". Den ersten hat ge¬
kränkter Ehrgeiz zu wahnwitziger Tat getrieben, die geschändete Helden¬
ehre sühnt er mit dem Tod, aufrecht schreitet er zum Hades. Die
Unbeugsamkeit ist nicht Verhärtung, rührend ist der Abschied von seinem